Chartwell

Der Sommer ist auch in England angekommen und fällt dieses Jahr auf den Donnerstag. Beinahe schon südlich-brillant begrüßte er uns schon in den Morgenstunden, Schleierwolken und eine sanfte Brise rundeten die intensiven Sonnenstrahlen ab. Der englische Sommer ist lieblich, die grüne Natur um uns herum strahlt saftig in allen Grüntönen, die vielen Wiesenblumen geben dem Panorama die Farbpunkte. Der ganze Anblick gibt mir Ruhe und Kraft, ich spüre, dass ich mich nicht bewegen muss, denn alles um mich herum ist da, wo es hingehört.

Gestern Abend erlebten wir noch einen der himmlischsten Momente auf dieser Fahrt. Der Campingplatz liegt zufällig direkt an einem „Bridle Way“, einem der uralten Pfade, die für jeden öffentlich zugänglich sind, auch wenn sie auf Privatland liegen. Es ist eine Tatsache, dass man auf diesen Wanderwegen ganz England erkunden kann. Sie führen durch Wälder und Felder. So auch gestern. An einer Stelle begrüßten uns Pferde, die allerdings unsere Grasgaben nicht annehmen wollten. Ein Apfel oder ein Stück Zucker hätte uns sicher auf der Beliebtheitsskala steigen lassen. So aber wurden wir stilvoll englisch-snobish ignoriert. Nachdem wir zehn Minuten durch die Lande gewandert waren, kamen wir an dem sicher schönsten und urigsten Country-Pub an. Es war ein Zeichen, hier bestellten wir unser erstes Halfpint eines regionalen Ales. Ich hatte den Geschmack fast vergessen. Beinahe kohlensäurefrei, doch mit starken Bitterstoffen und etwas warm – englisches Bier ist eben, wie es ist. Wir genossen es auf der Terrasse mit Blick auf einen See. Das Innere des Pubs würde ich es als ideal bezeichnen. Uralte, wuchtige Balken, holzwurmzerfressen und schief, der rauchige Geruch des Kamins, überall vergnügte Engländer, die ihr Feierabendbier genossen. Mit einem kam ich kurz ins Gespräch, es sind immer wieder entspannte Momente, weil die Unterhaltung ohne Schwierigkeiten dahinfließt, sich um das Wetter dreht oder Deutschland, was immer irgendwo auftaucht. Spätestens dann übrigens zeigen sich die Engländer als perfekte Europäer, ganz ohne Vorurteile und unglaublich gastfreundlich. Nur nach außen hin, auf politischer Ebene, müssen sie den Skeptizismus aufrecht erhalten. Schade eigentlich, denn sie könnten uns zeigen, mit welcher Einstellung man ein solch gewaltiges Projekt wie ein geeintes Europa angehen kann. Ich weiß, dass diese Thesen gewagt sind. Ich lasse sie trotzdem stehen.
Nach dem Pint wanderten wir beschwingt von der Erfahrung und von dem nicht allzu schwachen Ale zurück zum Campingplatz.
Es ist Morgen und ich genieße die stillen Momente, die leider alle zwei Minuten durch startende Flugzeuge aus Gatwick gestört werden Aber so schlimm ist es nicht. Wir haben keine große Eile. Warum auch. Vielleicht sind wir jetzt wirklich angekommen.

Jetzt, am Abend, kann ich über einen herrlichen Tag reflektieren. Der Weg nach Chartwell dauerte auf den schmalen, von uralten Hecken geschmückten Landstraßen etwas mehr als eine halbe Stunde. Ich hatte fast vergessen, dass die Straßen hier in England nie ganz für den enormen privaten Verkehr ausgebaut wurden. Manche Orte kommen mir so vor, als wenn sie sich seit 60 oder 70 Jahren nicht verändert haben. Für manches Stück Teer mag das sogar zutreffen.
Der Besuch des Hauses der Churchills wurde für mich ein emotionaler. Ich glaube, dass mich kein Politiker je so bewegt hat wie er. Selbst die Tatsache, dass er seit fast 50 Jahren tot ist, ändert nichts an der Inspiration und Faszination, die dieser Mensch auf mich ausübt. Der Fels in der Brandung, diese Metapher ist zwar oft gebraucht, doch auf niemanden trifft sie so zu wie auf Churchill. Er hat eine Nation davon überzeugt, allein gegen einen wie es schien unbesiegbaren Gegner zu kämpfen, während im restlichen Europa die großen Nationen umfielen wie Dominosteine. Dabei war er vor dem Krieg schon auf dem Abstellgleis, politisch unbedeutend, was ihn nicht daran hinderte, sich weiterhin wo es ging Gehör zu verschaffen. Vielleicht war er der einzige Politiker von Format auf der Welt, der Hitler vollständig durchschaute. Ich möchte daher soweit gehen und sagen, dass wir ohne Churchill wahrscheinlich überall deutsch sprechen und Andersdenkende und auch Menschen von anderer Herkunft noch immer in Konzentrationslagern gefangen halten würden oder schlimmer. Sein Mut und der Mut der Briten hat Europa und die Welt gerettet. Ohne ihn würden wir nicht in dem derzeitigen Zustand von Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können. Denn nach dem Krieg hat er im Besonderen den europäischen Gedanken forciert und die Wege geebnet. Ohne ihn würde ich nicht hier sitzen, in England, als Deutscher. Wie dankbar und gerührt ich gerade bin, merkt man sicher an den etwas überschwänglichen Worten. Aber die sind seiner ganz sicher gut gewählt.

Chartwell selbst ist ein Andenken nicht nur an Churchill selbst, sondern auch an die Frau an seiner Seite, ohne die er weniger als nur die Hälfte gewesen wäre. Clemmy Churchill hat sicher das Haus eingerichtet, die stilvollen Möbel ausgesucht. Überall sieht es so aus wie 1939, die Familie könnte jederzeit durch eine Tür in den Empfangssaal eintreten, um Besucher zu empfangen. Die Wände stehen voller Bücher, die den merkwürdigen, vergilbten Geruch aussenden. Überall hängen Fotos aus längst vergangenen Tagen, die das Paar und deren Kinder hier zeigen. Chartwell ist in dieser Richtung wundervoll erhalten. Dass Chruchill auch malte, zeugt davon, dass viele Menschen von großer Schaffenskraft auch eine künstlerische Ader haben. Seine Gemälde sind vielleicht nicht die größten Kunstwerke, doch strahlen sie die Leidenschaft aus, die er über alle seine Tätigkeiten legte. Ich las im Untergeschoss die Kurzzusammenfassung seines Lebens und am Ende, als ich über seinen Tod las, spürte ich den Verlust schmerzlich, als wenn ich jemanden verloren hätte, der mir nahestand. Irgendwo las ich dann die Worte, die ich allzu oft vergesse: Never, never, never give up. Ich fühlte mich schuldig, dass ich in den vergangenen Tagen so sehr gejammert habe. Auch in diesem Journal. Ich weiß wo ich stehe, ich weiß, was ich will. Nun ist es verdammt noch mal an der Zeit, dafür einzustehen. Und niemals, niemals, niemals aufzugeben. Nichts geschieht ohne Grund. Dieser Besuch im Hause Churchills zeigte mir das wieder einmal.
Es war also ein sehr intensiver Besuch hier in Chartwell. Vor Jahren war ich schon einmal hier, es hat mich auch beeindruckt, aber wirklich berührt war ich erst heute.

Nach diesem Höhepunkt fuhren Nina und ich nach Oxford. Dort trennten sich unsere Wege für einige Tage, denn Nina nimmt an einer Meditationsveranstaltung teil. Ich hingegen hatte die Wahl: Oxford oder etwas anderes. Ich habe etwas anderes gewählt. Ich weiß nicht warum, aber die altehrwürdige Universitätsstadt hat mich nie in den Bann gezogen. Anders als übrigens Cambridge. Und es liegt nicht an dem kindischen akademischen Gezänk um die elitäre Vorherrschaft. Aber der andere Ort, der mich immer sehr beeindruckt hat, sind die Cotswolds. Dorthin fuhr ich, kam wieder an malerischen Dörfern vorbei, sah die steinernen Mauern überall, die hier so typisch sind und natürlich die großartigen Felder und sanften Hügel. Rolling Countryside, so nennt man es auf Englisch. Eine treffende Übersetzung gibt es nicht, um die Wellen an grünen Hügeln zu bezeichnen, die dahinfließen wie Wasser.
Ich befinde mich in der Nähe von Bourton. Morgen werde ich endlich einmal das Auto stehen lassen und nur etwas wandern. Es wird ganz sicher himmlisch. Wie in alten Zeiten.