Cassis

Es war wie eine Erleuchtung heute Morgen. Wir erwachten und spürten, dass etwas anders war. Die dicken Vorhänge an den Fenstern ließen Lichtstrahlen hindurch, die nur eine Quelle haben konnten: die Sonne. Zwar war es noch immer recht kühl, doch als wir die Vorhänge etwas zur Seite schoben, blickten wir auf den blauen Himmel mit einigen Quellwölkchen. Wir hatten es überstanden, beziehungsweise die Gegend hatte es überstanden. Draußen herrschte noch eine eisige Feuchtigkeit, der Regen der letzten Tage hatte sich in die gesamte Natur eingegraben und gab sich nur langsam wieder auf. Die Sonne jedoch wärmte unsere steifen Glieder, nach diesen Tagen der Kälte und beinahe schon Dunkelheit, waren wir förmlich beschwipst von der Sonne und mussten bereits nach wenigen Minuten den Schatten suchen.

Wir hatten uns heute für Cassis entscheiden, von wo aus wir Marseille besuchen wollten. Eigentlich war der Mittelmeer-Ort nur 60 Kilometer von Aix entfernt, anfangs kamen wir auch gut voran. Doch dann führte uns Garmin direkt nach Marseille, mitten durch die Altstadt. Der Verkehr stand, wir auch, mitten drin. Fußgänger um uns herum waren allesamt schneller und ich haderte mit meinem schwer zu ertragenden Autofahrer-Schicksal. Im Augenblick habe ich wirklich das Gefühl, gerade beim Fahren nicht vom Glück verfolgt zu werden. Das ist natürlich Unsinn, nur ein Zeichen, dass ich im Moment die durchaus ereignisreichen Fahrten nicht genieße. Warum das so ist, weiß ich nicht, Selbst die Tage in Aix, in denen wir uns nur mit Öffentlichen bewegt haben, hatten keinen Einfluss auf meine Ungeduld beim Vorankommen. Letztlich war es nicht schlimm, in aller Ruhe stockten wir irgendwo unsere zur Neige gehenden Vorräte auf und fuhren nach Cassis, erst einmal zum Campingplatz, wo wir lange vor zwölf ankamen und nicht viel Zeit zum Ausruhen benötigten. Da wir erst morgen nach Marseille wollen, liefen wir in aller Ruhe zum Hafen, eine nicht unbeachtliche Strecke den Hang hinunter. Cassis ist sicherlich ein Bilderbuchort, die langsam anbrechende Saison jedoch hat die Touristenschwärme anschwellen lassen. Vorbei sind die von mir so geliebten ruhigen Zeiten, die Cafés sind voll, die Restaurants hier ebenfalls und die ruhige Atmosphäre, die Cassis so gut stehen würde, ist dahin. Dennoch mochte ich es, vielleicht weil der Hafen so schön ist. Wie gesagt, Boote üben auf mich zurzeit eine mir bislang ungewohnte Faszination aus, auch tragen die Häuserfassaden am Hafen durchaus dazu bei, Stimmung zu erzeugen. Die Felsen um die Bucht herum ragen beeindruckend in die Höhe und ich kann jeden verstehen, der diesem Charme erliegt und hier Urlaub macht oder sogar ein Haus kauft. Das Größte hat schon vor vielen Jahren eine in Frankreich berühmte Familie gekauft. Das Schloss von Cassis gehört den Michelins. Nein, nicht den Gummi-Menschen, den Firmengründern. Es thront auf einem Felsen über der Bucht und ist, soweit ich es sehen konnte, in perfekter Verfassung. Natürlich kann man es nicht besichtigen, anders als in England haben die hiesigen Schlossbesitzer noch eine Menge Rücklagen. Ich weiß auch nicht, ob es hier einen Verein wie den National Trust gibt, zu dessen treuen Fans ich mich zähle.

Besonders viel zu tun gibt es hier in Cassis nicht, wir liefen am Hafen entlang, schauten auf Speisekarten und bemerkten plötzlich, dass Deutschland heute ein WM-Spiel hatte. Also gönnten wir uns einen Pastis. Es war eher einer, der Sorgen vergessen lassen musste, denn Deutschland verlor völlig überraschend gegen einen Fussball-Nobody wie Serbien. Dass die es aber auch immer so spannend machen müssen…..
Zum Glück interessierte uns das nicht sehr lange, so dass wir, ein wenig angetrunken vom starken Anisschnaps, unseren kleinen Spaziergang fortsetzten. Im Rough Guide hatten wir gelesen, dass es hier eine Spezialität gibt: Seeigel. Also suchten wir die Restaurants nach diesen ab, um vielleicht einmal den einen oder anderen zu naschen. Nirgends jedoch fanden wir diese lokale Köstlichkeit. Kein einziges Restaurant bot diese hochgelobte Spezialität an, wir wunderten uns darüber sehr. Hatten sich die sonst so akribischen Schreiber meiner Lieblingsreiseführer geirrt? Das konnte doch nicht sein. Nina fasste sich ein Herz und fragte im Tourismusbüro. Nach einiger Zeit verstanden die Mitarbeiter auch, worum es ging und teilten uns mit, dass Seeigel-Saison im September sei. Aber natürlich, warum wussten wir das nicht? Seeigel, immer nur im September. Ich weiß nicht, aber ich finde, das gehört nicht zum Allgemeinwissen und ein winziger Hinweis im Rough Guide fehlt dort meines Erachtens. Wenigstens haben wir etwas gelernt, zwar wissen wir nicht, wie Seeigel schmeckt, aber dafür, wann wir das nächste Mal nach Cassis kommen müssen.

Wir setzten unseren Weg fort, doch bald schon gab es keinen Winkel, den wir in diesem Fischerdorf, das ganz auf chic macht, noch nicht gesehen hatten. Für eine Fahrt nach Marseille ist es jedoch genau der richtige Ort, abseits vom Trubel der Großstadt. Ob Nina dort eine Bouillabaisse essen wird, steht noch in den Sternen, die Preise in Cassis waren unverschämt, teilweise um die 60 Euro für einen Teller.
Am Ende schlichen wir den Berg zum Campingplatz hoch, der steiler schien als vorher. Hier brannte die Sonne auf uns herab wie seit Tagen nicht mehr, ein ungewohntes Gefühl, beinahe hatten wir es bereits vergessen.

Morgen werden wir eine der größten Städte Frankreichs erkunden, ein eigenartiges Gefühl, denn Frankreich verbinde ich nicht mit Großstädten, von Paris natürlich abgesehen. Das ist letztlich ähnlich wie Deutschland, dort gibt es Berlin, Hamburg mit Abstrichen, dann kommt eigentlich nichts Nennenswertes. Aber das ist subjektiv und ich überlasse diese Diskussion gerne anderen.