St-Remy-de-Provence

Es wird wärmer. Auch nachts. Ich liebe es, wenn ich beinahe unbedeckt schlafen kann und wenn die Wärme einen morgens aus dem Bett scheucht. Dieser natürliche Rhythmus des Sommers von frühem Aufstehen, ausgedehnter Mittagsruhe und späten Nächten. In Berlin oder London kennt man das nicht, zumindest nicht in derselben Tiefe wie hier im Süden, denn hier ist es Lebensweise.

Wir jedenfalls standen nicht rechtzeitig auf, machten uns viel zu spät auf den Weg. Erst gegen 11 Uhr verließen wir den sehr schönen Campingplatz bei Cadenet, Nina schaute fast ein wenig wehmütig zurück zum Badesee, in den sich keiner außer ihr hineingetraut hat. Alle anderen saßen wie die Hühner auf der Stange um den Pool herum. Auch eine Angewohnheit von Menschen, die ich nicht verstehe, selbst ein nahe gelegener Strand bringt die Leute nicht dazu, sich vom künstlichen Becken und gechlortem Wasser wegzubewegen. Aber ich will ja nicht mehr werten.

Wir fuhren nicht weit, etwas mehr als 50 Kilometer nach St-Remy-de-Provence. Bei Cavallon bekamen wir endlich einmal den Fluss Durance zu Gesicht, der sich an dieser Stelle als nicht sehr ansehnlich zeigte. Eine breite Brücke überquerte ihn und er sah eher wie ein winziger Rinnsaal aus. Wir hatten eher einen wild fließenden und nach den Regenfällen bedrohlichen Strom erwartet, den wir vor ein paar Tagen schon einmal bei Cadenet gesehen hatten. Wahrscheinlich wird das Wässerchen irgendwo gestaut, um eines der vielen Kernkraftwerke in Frankreich zu entlasten.

Entgegen allen Erfahrungen kamen wir heute sehr gut voran, der Grund ist sicher darin zu finden, dass diesmal keine Gebirgskette zwischen uns und unserem Ziel lag. In nicht einmal einer Stunde Fahrzeit erreichten wir St-Remy und merkten sofort, dass Markttag war, denn die meisten Autofahrer, denen wir begegneten, sahen so aus als würden sie für einen Parkplatz ein deutsches Pärchen umbringen. Warum wir Glück hatten und für dieses große Gefährt sofort einen fanden, ist eines der Rätsel des Tages, das wir nicht auflösen, sondern dankbar hinnehmen. Wir schafften es auch noch rechtzeitig ins Zentrum, um den überaus geschäftigen Markt zu sehen, eine halbe Stunde später begannen die Händler bereist einzupacken. Spätestens um eins ist der Spuk meist vorbei. Ich empfand es als perfekt, zum Einen den Markt zu erleben, zum Anderen die Stadt danach erkunden zu können, denn das Gedränge ist bei Besuchen dieser Art etwas störend. So bekamen wir von beidem etwas. Eines fiel uns sofort auf, die Sprache, die wir am häufigsten hörten, war nicht etwa Französisch, sondern Englisch. Auch nicht das elegante, etwas nasale langezogene von der Insel, sondern das kaugummiartige und verwaschene von jenseits des Teiches. Welches von beiden ich vorziehe, dürfte somit ebenfalls geklärt sein. Auch Teile des Produktangebotes waren auf diese Klientel zugeschnitten, die kitschigsten Bilder der Provence gab es in den üppigsten Farben zu kaufen. Nur Amerikaner können sich so etwas ins Zimmer hängen. Schön, wenn man in seinen Vorurteilen lebt und alles dafür tut, sie für sich selbst zu bestätigen.

Das Gedränge wurde uns bald zu viel und wir entscheiden uns, nach einem Besuch bei den besonders hilfreichen und charmanten Mitarbeitern des Touristensbüros für einen Van-Gough-Rundgang. Einer der größten Künstler und Genies aller Zeiten hat sich hier 1890 selbst in das örtliche Sanatorium einweisen lassen. Ein ganzes Jahr wurde er hier behandelt, nebenher hat er jedoch Zeit gefunden, 150 Ölgemälde zu malen und über 100 Zeichnungen und Sketche anzufertigen, einige davon zählen zu seinen berühmtesten Werken. Es ist nicht schwer zu sehen, wo Van Gough seine Inspiration fand, überall um St-Remy stehen noch immer die Olivenbäume, die nackten Felsen der Allpilles, die Zypressen und Felder, die er hier teilweise aus seinem Gedächtnis malte. An die 20 Schilder mit seinen Bildern stehen auf einer Art Rundgang und wir beide empfanden es als faszinierend, den Künstler besser zu verstehen, in dem wir seiner Inspiration in der Gegend folgten. Ich glaube, dass Nina und ich die Landschaft der Provence ein bisschen mit den Augen Van Goughs sehen lernten, der geschwungene Strich, der so viel Bewegung erzeugt, den Wind so perfekt darstellt und die Aktionen der Menschen. Es war eines der tiefsten Erlebnisse, die ich jemals hatte, einem solchen Künstler auf diese Weise näher zu kommen. Gerecht finde ich übrigens, dass keines der Werke Van Goughs sich hier befindet. Es gibt zwar ein Museum, das ihm gewidmet ist, doch die Bilder sind in den bekanntesten Galerien dieser Welt verstreut. So ist es eben, wenn man ein Genie verkennt, Van Gough hat in seinem ganzen Leben nur ein einziges Bild verkauft. Bewundernswert, dass er trotzdem weiter gemacht, seinen Stil gefunden und ihn der Welt förmlich aufgeschwungen hat. Die bittere Ironie ist, dass der Mensch, der in seinem Leben auf die Hilfe seiner Familie angewiesen war, wenn es um seinen Lebensunterhalt ging, heute sicher einer der reichsten Künstler der Welt wäre. Er kannte den Misserfolg und hat sich von ihm in der kurzen Zeit seines Lebens nicht unterkriegen lassen. Ob es ihn am Ende doch deshalb in den Selbstmord getrieben hat, weiß ich nicht.

Das Museum vor Ort haben wir uns nicht angesehen, es wäre zumindest mir als Hohn vorgekommen, nach den wundervollen Motiven der Umgebung in diese künstliche Welt zu treten. Hätten die Stadtväter vor über Hundert Jahren ein wenig besser hingeschaut, wäre dieses Museum sicher eines der am meisten besuchten auf der Welt. So aber befinden sich dort nur Kopien. Ich muss gestehen, dass das in mir so etwas wie Schadenfreude weckt. Was Van Gough-Enthusiasten ebenfalls interessieren könnte, sind die nachgebildeten Räume im Sanatorium, in denen er hier gelebt hat. Ich empfinde so etwas immer als etwas geschmacklos, aber jedem das seine.

Unser Rundgang führte uns auch an den römischen Ruinen vorbei, dem Triumphbogen, genannt Les Antiques, der sehr gut erhalten – wenn auch von etwas zweifelhaftem künstlerischen Interesse – ist. Daneben befindet sich ein Mausoleum, es wird vermutet, dass hier zwei Enkel des Augustus begraben liegen. Die Reste der römischen Stadt Glanum haben wir heute nicht angeschaut, der Eingang liegt in der Nähe des Triumphbogens.

Als wir wieder in die Stadt kamen, war diese schon völlig aufgeräumt. Es ist faszinierend, wie schnell die Franzosen es schaffen, die Spuren eines solch riesigen Marktes ohne einen Makel zu beseitigen. Wir liefen wieder einmal durch die engen Gassen, an vielen einladenden Restaurants vorbei, ohne dem kulinarischen Verlangen nachzugeben. Dabei stießen wir auf das Geburtshaus eines berühmten Sohnes der Stadt, Nostradamus. Kaum etwas erinnert an einen der bekanntesten Schriftsteller der Welt, dessen Werke seit fast fünfhundert Jahren immer wieder aufgelegt werden. Einen Brunnen mit seiner Büste haben sie ihm gewidmet. Immerhin.

Es war insgesamt ein wundervoller Tag, voller Aktion und Bilder, wir sitzen jetzt zufrieden auf dem Campingplatz, der keinen Großbildschirm hat, somit entkomme ich heute dem Fußballfieber, auch wenn Deutschland heute Abend spielt. Vielleicht schaffen sie es ohne mich, wenn nicht, dann haben sie wenigstens einen, auf den sie die Verantwortung schieben können.
Les Baux ist keine 10 Kilometer entfernt, es wird also nicht langweilig.