Epidauros

Morgen muss ich mich hier losreißen. Es ist einer dieser Orte, die man wie Koroni vor einigen Tagen sonst nie verlässt. Das Schlimme daran ist, dass ich mich in eine Art Urlaubsrhythmus eingepegelt habe. Meist stehe ich nicht vor neun hier auf, der Tag ist also schon gehörig angebrochen. Es ist allerdings genau diese griechische Lässigkeit, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte. Eine Ruhe, die so gut für das Gemüt ist, die Zweifel und Sorgen zumindest so bescheint, dass diese nicht ellenlange Schatten werfen. Es ist allerdings auch ein Ort der Melancholie. Mehr als einmal verfolgen mich die Gedanken an meine Zukunft, die Zweifel, ob ich es jemals zu etwas bringen werde, dass ich es nicht schaffen werde, mein Leben sinnvoll zu füllen, sondern irgendwo in einer sinnbefreiten Tätigkeit für andere schaffen muss, ohne Herr meines Lebens zu sein. Ich habe mich weit entfernt von dem, was man unter normalen Umständen als „normales“ Leben bezeichnet. Seit Jahren schon folge ich meinem Stern, ohne ihn natürlich zu erreichen, dennoch war ich immer recht glücklich dabei. Die Zweifel verfolgen mich jedoch auf Schritt und Tritt. Natürlich ist die Angst zu versagen am größten. So viel weiß ich schon. Noch nicht einmal meine nächsten Verwandten lesen meine Bücher, das erste war noch etwas Besonderes, es hat sicher etwas, einen Schriftsteller in der Familie zu haben. Das zweite ist dann schon anstrengend, das dritte und vierte nur noch ein Ärgernis.
Dabei habe ich viele Ideen, wie ich weiter vorankommen kann. Vor dem digitalen Zeitalter hatte ich noch nie Angst, im Gegenteil, ich habe es immer als eine Chance gesehen. Die aufstrebenden E-Bücher könnten mich von starren Verlagen unabhängig machen, da ich vorlesen kann, könnte ich meine eigenen Audio-Bücher veröffentlichen. Im Designen von Internetseiten bin ich zwar nicht besonders gut, aber immerhin könnte ich noch etwas zusammen bekommen, das ansehnlich genug aussieht. Das Problem, wie immer: Wie mache ich auf mich aufmerksam? Ich halte mich nicht für wichtig, habe das noch nie getan, somit ist das Poltern und das „mich-in -den-Vordergrund-Drängen“ immer ein Graus gewesen. Also muss ich es schaffen, meine Art zu finden, die leisen Töne, die man aber dennoch hört. Das wird die Herausforderung, nichts anderes.

Genug gejammert. Heute wollte ich nach Epidaurus. Dazu musste ich aus der winzigen Parzelle des Campingplatzes heraus, die, umgeben von stabilen Eisenstangen, eng und furchterregend aussahen. Ich schaffte es recht schnell, zumindest in der richtigen Richtung auszuparken. Was nun folgte, war eine rasante und steile Anfahrt zur Straße. Im ersten Gang ächzte ich den Hügel hoch, wohlgemerkt, so ist der Campingplatz beschaffen. Immer in der Hoffnung, dass ich nicht bremsen müsste, denn dann würde ich niemals wieder an Fahrt gewinnen. Ich musste zum Glück nicht stehen bleiben, sondern hatte es irgendwann geschafft. Trotzdem, das mache ich nur noch ein einziges Mal, und zwar wenn ich abfahre.
Die Fahrt nach Epidaurus war ereignislos. Allerdings, wenn man etwas mehr Zeit hat, könnte man hier eine ganze Reihe von archäologischen Kleinoden erkunden. Überall stehen Hinweise auf Ausgrabungen, oft Gräber, aber auch mykenische Brücken habe ich gesehen. Wenn ich wirklich viel Zeit hätte, würde ich einen Wanderweg entwerfen, der genau diese unbeachteten Stätten einschließen würde. Aber das muss warten.

Die Ausgrabungsstätte in Epidaurus ist für einen wahren Ansturm von Besuchern gerüstet. Heute wirkte das Ganze etwas lächerlich, denn auf dem kaum überschaubaren Parkplatz verloren sich nur einige Dutzend Fahrzeuge. Es war recht lustig, denn ich traf sicher vier weitere Parteien vom Campingplatz, viele Deutsche. Eigentlich traurig, denn wir haben es nicht geschafft, uns zu einem gemeinsamen Ausflug zu verabreden. Wenigstens Benzingeld hätten wir teilen können. Von den Erfahrungen ganz zu schweigen.
Auch neben dem Eingang sind zahlreiche Vorkehrungen für ganze Touristenhorden, automatische Einlässe mit Automaten, in die man sein elektronisches Ticket stecken muss. Aber nichts davon ist in Betrieb, kein Wunder, wegen der wenigen Besucher ist so etwas auch nicht nötig.
Gleich am Anfang des Rundgangs erreichte ich in die Hauptattraktion, das Theater. Die Sitzreihen sind sehr gut erhalten, die Aufbauten, d.h. die Bühne, gar nicht. Ich lief sofort ganz nach oben, weil ich von der Akustik des Bauwerkes gelesen hatte. Und tatsächlich, die Beschreibungen hatten nicht übertrieben. Unten im Theaterraum befand sich eine Reisegruppe und die Leiterin führte den Effekt vor. Sie raschelte mit etwas Papier. Das Geräusch kam unvermindert mit etwas Verzögerung bei mir oben an. Unglaublich. Da es sich um eine italienische Gruppe handelte, konnten sich einige nicht enthalten und begannen zu singen. Italiener singen immer und überall, auch in Opern. Diese kleine Gruppe aber machte einen guten Job, sie sangen das bekannteste Stück aus Nabucco und mimten den Sklavenchor. Ich verstand jedes Wort, einfach herrlich.
Das war nicht mehr zu überbieten, also ging ich. Eigentlich müsste ich mir ein Theaterstück oder eine Oper ansehen, das wäre hier sicher ein Genuss, doch dafür komme ich dieses Jahr einen ganzen Monat zu spät. Die Spiel-Saison endete hier vor vielen Wochen.

Nach dem Theater ging es ziemlich abwärts. Ich sah mir das bescheidene Museum an, das sicher seit vielen Jahren bereits unverändert ist. Kaum Erklärungen, zusammengewürfelte Fundstücke, somit entstand eine Menge Verwirrung. Draußen traf ich auf alte Bekannte. Ganz am Anfang meiner Griechenlandreise habe ich eine Schülergruppe getroffen, die auf Zeichenfahrt war. Ich erkannte die Pelikan-Blöcke sofort wieder. Noch immer waren alle sehr frei, frei von jeglichem Talent, aber sie gaben sich alle Mühe und wer weiß. Es machte ihnen sichtlich Spaß und das ist doch die Hauptsache. Ich kann sie ja verstehen, denn auch ich bin frei. Ich versuche es trotzdem jeden Tag.
Nach dem Museum erwartete mich ein riesiges Trümmerfeld. Ich erinnerte mich an eine Unterhaltung, die ich vor Jahren mit einem Deutschen auf einem Campingplatz in Italien hatte. Es muss 15 Jahre her sein, ein völlig verrückter, damals 40-jähriger, der einsam wie ich unterwegs war. Er erzählte mir, dass er Italien Griechenland vorziehe, zumindest was die Altertümer betrifft. Denn in Italien wären selbst die griechischen Tempel wesentlich besser erhalten als in Griechenland selbst. Damals kannte ich diese Tempel noch nicht, aber heute muss ich gestehen, dass er recht hatte. Paestum zum Beispiel ist ein Ort, an dem man diese Tempel bewundern kann. Hier in Epidaurus liegen nur Bruchstücke, die eine oder andere Säule ist nagelneu aufgebaut. Sich eine Vorstellung vom Komplex zu machen ist schwierig, weil einfach zu wenig erhalten ist. Ich befürchte, dass mich Ähnliches in Mykene und Korinth erwarten würde, wenn ich mich denn entschließe, dorthin zu gehen. Heute Abend bin ich nicht mehr sicher, ob ich die Stätten besuchen werde. Auch wenn es ketzerisch ist.
Nach ca. anderthalb Stunden ging es mir wie den meisten, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Also fuhr ich wieder.
Das gab mir wenigstens genug Raum und Zeit, mich mit dem Roman zu befassen. Ich laufe im Moment Gefahr, ihn unnötig in die Länge zu ziehen. Einige Tage werde ich noch daran schreiben, aber dann ist Schluss. Nicht, weil ich es will, sondern weil die Geschichte dann auf natürliche Art endet. Ich weiß das einfach.

Morgen geht es weiter. Wohin weiß ich noch nicht. Da die Temperaturen langsam auf dem Rückzug sind, ist es auch nicht mehr so schlimm, etwas später loszufahren.
Diesen Ort jedoch werde ich vermissen. Ich höre nachts die Wellen. Vielleicht schlafe ich deshalb so gut und so viel.