Gorges Dades/Dardes-Schlucht

Heute bin ich bereits einen Monat unterwegs, wobei diese wenigen Wochen in meinem Bewusstsein bereits in das Reich der Legenden übergegangen sind. Was war, ist nicht mehr wichtig, doch ich erinnere mich mit einem immensen Wohlwollen an diese Zeit. Es ist anders als sonst, denn diesmal schreibe ich das Journal und ich sehe mich somit in der Lage, viele Legenden wieder zurückzuholen und dem Bereich der Realität zumindest wieder anzunähern. Doch noch wage ich es nicht, mein Journal wieder zu lesen, obwohl es sicher dringenden Redigierens bedürfte. (Anmerkung 18 Monate später: Ja, ich musste es überarbeiten, habe es aber so ursprünglich wie möglich belassen) Doch das muss warten, so lange, bis ich meine Reise beende. Noch bin ich mir nicht schlüssig, was ich aus den ganzen Texten machen will. Ich bin Schriftsteller und das Publizieren ist somit ein Muss. Meine Idee im Moment ist – wie immer – eine Webseite. Grafisch aufgepäppelt, mit mehr Fotos hinterlegt als sonst, wäre sie grandios, obwohl ich noch keine Möglichkeit sehe, wie ich damit auch nur einen Cent machen könnte. Vielleicht, wenn die Seite fertig ist, eine Art Spendenkonto mit dem Angebot, eine PDF-Datei zu schicken, die Leute dann ausdrucken können. Doch diese Gedanken muss ich noch ein wenig gären lassen. Nach den vielen Enttäuschungen der letzten Monate, der vielen Absagen meiner Geschichten durch seriöse Verlage und vielen Angeboten, die man gar nicht als solche bezeichnen kann, so unseriös waren sie, denke ich mir, dass es auch ohne Verlag gehen muss. Besonders in unserer Zeit, in der eine vollkommene Dezentralisierung von Veröffentlichungen durch das Internet geschieht, gibt es sicher Wege, hier zu Erfolg zu kommen. Einfach wird es jedoch nicht, ein neues Konzept muss her, eines, das ich diesmal auch konsequent verfolgen muss.
Was immer mich davon abhält, erfolgreich zu sein, machte mir besonders heute zu schaffen. Ich weiß auch nicht, warum, doch das Wandern in den Bergen hat für mich immer eine kathartische Wirkung, die mich bis auf den Boden meiner Selbst schauen lässt. Welche Angst ist es wirklich, die mich in all den Jahren, in denen ich immer neue Dinge angefangen habe, zurückgehalten haben mag? Immer wenn ich eine quasi-selbstständige Tätigkeit begonnen habe, hörte sie an dem Punkt auf, an dem ich eigentlich wirklich hätte anfangen müssen. Der letzte Schritt, in die Öffentlichkeit zu treten, war mir immer derjenige, der zu viel war. Auf diese Weise machte ich natürlich immer Verluste, denn besonders im Aufbau investiert man nur, ohne viel einzunehmen.
Das Verrückte daran ist jedoch immer gewesen, dass sobald ich irgendwo angestellt war, das Heft so in die Hand genommen habe, wie es ein Unternehmer eigentlich tun muss. Inspiriert und fortschrittlich habe ich damit die Menschen, für die ich verantwortlich war, regelmäßig überfordert. Ebenso meine Vorgesetzten. Hätte ich auch nur einen Hauch dieser Energie in meine eigenen Projekte stecken können, bräuchte ich mir um meine berufliche Zukunft keine Gedanken mehr zu machen. Diese Angst jedoch zeigt sich mir noch nicht, es wäre auch zu einfach, sie in einer Art Versagensangst zu suchen, denn öffentliches Feedback scheue ich nicht mehr, oder zumindest wesentlich weniger als früher. Nein, es muss etwas anderes sein, eine tief verwurzelte Angst, deren Gesicht ich noch nicht kenne und die anscheinend so verkrustet ist, dass ich sie bislang nicht einmal erahnt habe. Bis heute, da mir die Dardes Gorges so gnädig die Einfälle gegeben hat, die ich für mein zukünftiges Leben unbedingt beachten muss. Schon deshalb werde ich mich immer gerne wieder an diesen Ort erinnern.
Trotz meines frühen Erwachens trödelte ich einmal wieder, so dass ich nicht vor 9 Uhr loskam. Schuld daran ist Carlos Ruiz Zafon, dessen Roman „Das Spiel des Engels“ gehörig viel Zeit in Anspruch nimmt. Doch keine Minute ist verschwendet, er ist ein gottbegnadeter Schreiber, der zwar ab und an ein wenig zu schwülstige Adjektive benutzt, zumindest für meinen Geschmack, doch seine Erzählkunst ist einzigartig. Da der Roman in Barcelona spielt, einer Stadt, die ich erst im Januar mit Nina zusammen besucht habe, kenne ich zumindest einige Orte, so dass es ein frohes Wiedersehen mit dieser grandiosen Reise gibt, während ich lese.

Gorges Dades Affenfelsen

Aber zurück zum Thema. Ich machte mich gegen 9 Uhr auf, wieder war es bereits um diese Zeit sehr heiß. Dank des oasenartigen Flussbettes war es hier kühler, so dass ich unbeschwert an die Stelle gelangte, an der ich gestern zugunsten der kleinen Gesellschaft umgekehrt war. Was immer mich geritten hatte, ein irrwitziger Gedanke hatte mich neue Trekking-Sandalen anziehen lassen und bereits nach wenigen Hundert Metern spürte ich die Druckstellen, die heftige Blasen versprachen. An ein Umkehren war nicht zu denken, so dass ich meinen Weg fortsetzte. Ich folgte der teils schattigen, teils sonnigen Schlucht. Noch stand an manchen Stellen das Wasser, das hier vor nicht all zu langer Zeit entlang geflossen sein muss. Ich kam gut voran, in diesem ausgetrockneten Flussbett, manchmal musste ich auf allen Vieren kriechen, um durch Felsspalten zu gelangen, doch das machte das Vergnügen um so abenteuerlicher. Bald schon waren meine Beine und Hosen in einen rötlichen Schimmer getaucht, der feine Sand blieb leicht an Tuch und Haut kleben. Neben mir blühte Oleander, die Luft war erfüllt vom Duft verschiedener, mir nicht bekannter Kräuter, der rote Stein der Felsen leuchtete kräftig.
Ich lief ca. eine Stunde, dann kam eine Stelle, die ich nicht mehr bewältigen konnte. Ca. einen Meter über mir ging der Weg weiter, Felsen türmten sich in einer schmalen Kammer steil neben mir auf und ich sah keinen Weg hinauf. Selbst eine kleine Nebenkammer entpuppte sich ebenfalls als Sackgasse. Ich versuchte es zweimal, irgendwie meinen Weg zu erklettern, stieß mir beide Male heftig den Kopf, bis ich einsah, dass es nicht mehr weiter ging. Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht war, doch ich hatte alles probiert, um weiterzukommen. Ich lief ca. 50 Meter zurück und sah plötzlich eine Art Aufstieg, der eigentlich diesen Namen nicht verdient. Nur wenige Zentimeter war er breit, an einer Steilwand entlang, doch zumindest sah ich eine Chance, auf den Felsen zu gelangen, um somit die schwierige Stelle zu umgehen. Ich schaffte es auch recht leicht und spazierte nun über dem Flussbett unter mir auf zerklüfteten Felsen, nahm von oben die unüberwindliche Stelle in Augenschein und marschierte weiter. Das Ganze war nicht ohne Risiko, doch empfand ich es als zumutbar. Relativ sicher gelangte ich irgendwann wieder auf den Weg, markierte mit Steinen meinen vermeintlichen Abzweig, damit ich ihn später auch wiederfinden würde. Ich lief weiter, eine ganze Stunde noch. Langsam begann mich das unpassende Schuhwerk zu piesacken, auch Pflaster halfen nicht. Zu allem Überfluss wurde der Weg immer unzugänglicher, sehr viel Wasser stand noch in riesigen Pfützen auf dem Pfad und ein ums andere Mal versackte mein Fuß in diesem mit Mückenlarven verseuchten Nass, was nach sich zog, dass immer mehr Sand in meine Sandalen gelangte. Die Wirkung kann sich jeder vorstellen, wie feuchtes Sandpapier eben und meine Füße waren innerhalb kürzester Zeit ziemlich wund. Ich erkannte bald, dass es so nicht weiter ging, der Weg wurde ohnehin durch viele Felsen immer unwegsamer. Irgendwann wusste ich, dass ich umkehren musste, ich habe für so etwas ein Gefühl entwickelt. Ich lief also zurück, machte noch eine schöne, schattige Pause mit fürstlichem Mal, das aus Brot und einer Dose Sardinen bestand. Ich saß direkt neben einem Feigenbaum, der seinen süßlichen Duft verströmte, auch wenn er noch keine Früchte trug.
Den Abzweig nach oben fand ich ohne Probleme, dank meiner Markierungssteine. Ich lief wieder über der Schlucht entlang und an einer Stelle sah ich eine Möglichkeit, weiter nach oben zu klettern. Ich nutzte sie, auch wenn der Felsen ausgesprochen bröckelig aussah und auch war. An einer Stelle dann verließ mich fast der Mut, es ging sicher 10 Meter in die Tiefe, ein, wie ich später bemerkte, waghalsiger Sprung brachte mich in sichere Gefilde. Ich glaubte gar nicht, dass ich das getan hatte, wollte gar nicht daran denken, was alles hätte geschehen können. War es aber nicht, doch machte ich mir Gedanken, wie ich dort wieder hinunterkommen konnte. Allerdings nicht lange, denn als ich etwas höher gestiegen war, sah ich in 200 Metern Entfernung eine Marokkanerin, die auf einem Pfad entlang marschierte. Ich hatte einen der uralten Nomadenwege gefunden, brauchte mich also um den Abstieg nicht weiter zu kümmern. Es lag noch ein wenig Kletterei vor mir, die allerdings gefahrenlos zu bewältigen waren. Sehr glücklich wandelte ich also auf diesem Pfad dem kleinen Berberdorf entgegen, das gegenüber von meinem Campingplatz liegt. In einem kleinen Lokal trank ich noch einen für mich viel zu starken Pfefferminztee, der selbst nach drei Stücken Zucker immer noch zu bitter war und kehrte befriedigt zum Campingplatz zurück. In dem Lokal erzählte mir der Sohn des Besitzers noch einiges über Marokko und diese Gegend, die vor zehn Jahren noch nicht einmal Stromanschluss gehabt hatte. Jetzt gibt es Brunnen und Filtersysteme, die sauberes Wasser garantieren, die Straßen sind einwandfrei – Dank der Ideen des Königs, den armen Süden touristisch zu erschließen und den Menschen somit ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Träume meines neuen Freundes sind dieselben, die alle Menschen haben. Er will nach Europa, um dort sein Glück zu suchen, hat eine Art Abschluss im Hotelgewerbe und ich bin sicher, dass er mit der weiteren Öffnung Marokkos sein Glück finden wird. Letztlich wäre das nur fair, denn für Europäer ist es relativ einfach, nach Marokko zu kommen und auch zu arbeiten, wie ich gelesen habe. Warum sollte für Marokkaner nicht die gleiche Möglichkeit bestehen? Der Begriff der Europäischen Union ist bereits durch die eventuelle Mitgliedschaft aufgeweichter denn je, wenn ein asiatisches Land beitreten kann, warum nicht auch ein afrikanisches? Ich fände es großartig, und auch wenn ich weit davon entfernt bin, es als mögliche Heimat anzusehen, so ist es dennoch bereits ein größerer Teil von mir, als ich vor dieser Fahrt gedacht hätte. Wir können viel von der Freundlichkeit und Offenheit der Menschen hier lernen und eine weitere Vermischung der Völker wäre somit für beide Seiten von Vorteil. Ich bin mir fast sicher, dass ich das noch erleben werde. Vor allem, wenn der König Mohhamed VI in diesem Tempo weiter macht, sein Land zu reformieren. Hätte ich noch etwas Wein, würde ich jetzt darauf trinken. Daher hebe ich jetzt mein Wasserglas…… was für ein armseliger Ersatz.