Erice

Es war ein eigenartiger, nachdenklicher Tag. Es gingen mir so viele Dinge durch den Kopf, Gedanken, von denen ich nicht sicher bin, ob ich sie wirklich aufschreiben möchte. Ich stand bereits müde auf, etwas, dass sich den ganzen Tag nicht ändern sollte. Ich schaute kurz nach dem Aufstehen heute Morgen in den übergroßen Spiegel, erkannte mich kaum wieder. Mich sahen müde Augen an, die Wangen sind eingefallen, das Gesicht sichtlich gealtert. Ich sah mir den enormen Gewichtsverlust deutlich an, auch wenn der Körper stahlhart trainiert ist, schlackert alles. Der seit Monaten sprießende Bart sieht wild und ungezähmt aus, die Haare ungekämmt und beinahe rasterartig verknotet geben mir den Hauch eines Penners. Wer mich so sieht, würde mich wahrscheinlich kaum wiedererkennen. Meine Arme und Beine fühlten sich an wie Blei, die Energie schien mir völlig abhandengekommen.

Ich raffte mich dennoch auf, um etwas zu unternehmen. Gegen elf fuhr ich los, in Richtung Erice. Schon von Weitem erkannte ich den Ort, hoch auf einem Berg. Ich zweifelte, ob die Transe derartige Steigungen bewältigen wollte. Ich ließ ihr keine Wahl. Es begann recht gemächlich, ich zuckelte langsam in dritten Gang die Serpentinen hoch. Vielleicht ist es auch die Erfahrung der Pässe, die ich kaum noch zählen kann, aber mir kam der Anstieg nicht so dramatisch vor. Ich habe schon wesentlich schlimmere Pässe befahren.
Ich stellte den Camper vor einem mittelalterlichen Tor ab. Neben mir parkten ebenfalls Camper, so dass ich mich nicht so einsam fühlte. Ich stellte fest, dass ich ziemlich weit unten in Erice parkte, also genau richtig, um eine Bergstadt zu erkunden. Schon von hier hatte ich großartige Ausblicke auf die Umgebung, sah unter mir die Bucht, in der Ferne sogar die nächste. Leider war der Himmel recht bedeckt, die Luft etwas diesig, bei klarem Wetter muss man noch weiter sehen können.

Ich lief in Richtung Zentrum, kam aber erst an einem maurischen Turm vorbei. Ganz recht, jemand hat sich im neunzehnten Jahrhundert von den Arabern inspirieren lassen und eine wuchtige Wehranlage nach Art eines Alkazars bauen lassen. Unterhalb des Turmes sah ich eine Art Märchenschloss, nicht sehr groß und ziemlich verfallen. Es hätte mich nicht gewundert, hier Dornröschen zu finden. Dahinter befindet sich die Burg, immer vor dem großartigen Szenario des steilen Abgrunds. Es ist wirklich einmalig. Die Festung schaute ich mir nur von außen an. Eine echte Trutzburg. Von hier hatte ich ebenfalls wundervolle Ausblicke auf Trapani und einige Inseln. Im Rough Guide steht, dass man an guten Tagen bis nach Afrika sehen kann. Es war kein guter Tag, in mehr als einer Hinsicht. Ich dachte jedenfalls an den Beginn meiner Reise zurück, an Marokko und Gibraltar, sah die zweite Säule des Herkules auf afrikanischer Seite im Geiste im Dunst des Mittelmeers verschwinden. Heute war ich wieder sehr nah am Schwarzen Kontinent.
Ich denke, die Lage und die Aussichten sind der Grund für den Besuch Erices. Ich schaute mir die Stadt an, sie wirkte an diesem Tag recht düster. Die Gebäude sind sehr grau und hoben sich kaum vom Himmel ab. Auch ist es ein sehr touristischer Ort, überall gibt es fürchterliche Souvenirladen, die allesamt an diesem Feiertag geöffnet hatten. Die Restaurants sind natürlich ebenfalls überteuert. Trotzdem hatte ich Glück, denn Erice profitierte davon, dass an diesem Neujahrstag sicher wesentlich weniger Besucher hier waren. Was im Juli/August los ist, möchte ich nicht einmal erahnen. So aber konnte ich die düstere, mittelalterliche Atmosphäre genießen, vor allem, wenn ich mich etwas abseits der Hauptstraße aufhielt. Ich wäre gerne in eine Kirche gegangen, in deren Atmosphäre ich gut nachdenken kann, aber ich fand nur eine, die geöffnet hatte und aus der wurde ich nach fünf Minuten hinausgeworfen. Schade.

Nach einigen Stunden hatte ich genug. Ich verstehe auch langsam, dass ich des Reisens ganz sicher etwas müde werde. Selbst ein solcher Ort beeindruckt mich nicht mehr so, wie er es sollte. Ich sehe Dinge nicht mehr mit dem gleichen Feuer, sicher ein Zeichen, dass es an der Zeit ist, etwas zu ändern. Was auch immer.
Da es zu regnen begann, machte ich mich auf den Heimweg. Allein mit meinen Gedanken verbrachte ich die Zeit im Camper. An Schreiben war nicht zu denken, das geht einfach an so einem Tag nicht.
Morgen werde ich in Richtung Palermo fahren. Bald bin ich drei Wochen hier, es langt allmählich.
Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, warum ich an diesem Tag so fertig war. Eins ist sicher: Alles wird gut. Im Laufe der Zeit.