Syrakus

Alles hat großartig funktioniert.
Um zehn war ich abfahrbereit, hatte mir Zeit gelassen. Um Viertel nach Zehn kam der Gasmann, ich habe es nicht einmal mitbekommen. Die Flasche stand schon an der Rezeption, vollgefüllt, so wie vereinbart. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Erst einmal bereitete ich also einen Espresso zu. Ich hatte schon gedacht, dass ich den Kocher vorgestern zum letzten Mal auf dieser Reise benutzt hätte. Dann zahlte ich und verließ nach zehn (!) Tagen den Campingplatz. So lange war ich noch nie irgendwo gewesen. Ich weiß nicht warum, denn so wundervoll war es nun auch wieder nicht.

Ich fuhr in Richtung Syrakus, wollte dort zumindest einen kleinen Zwischenstopp einlegen. Garmin kennt die Autobahn noch gar nicht, durch diese Schnellstraße kam ich schneller voran, als ich dachte. Es sind ungefähr 75 Kilometer mit dem Auto, es sah auf der Karte nicht so weit aus. Ich habe Sizilien also etwas unterschätzt.
Ich parkte weit außerhalb, auf einem Parkplatz eines größeren Discounters. Ich kann so etwas nicht empfehlen, denn die ganze Zeit in der Stadt hatte ich das Gefühl, etwas getan zu haben, das nicht richtig war. Und außerdem traute ich der Gegend nicht. Im Grunde liegt alles nur am Laptop. Seit Nina ihn mir mitgebracht hat, möchte ich den Camper nur an sicheren Orten abstellen, immer in der Angst, jemand könnte das gute Stück mit allen Daten darauf stehlen. Es ist im Grunde abartig, denn das hieße, dass ich nirgends mehr hingehen kann. Ich muss also gegen diese Angst vorgehen, ich weiß aber noch nicht wie. Heute jedenfalls gelang es mir nur zeitweise.

Ich lief den letzten Kilometer, bevor ich Syrakus erreichte. Vor Jahren habe ich Thukydides gelesen, seine Ausführungen zum Peloponesischen Krieg studiert. Hier also bin ich am Schauplatz des Geschehens. Vor mehr als 2400 Jahren begann der Abstieg Athens. Sie verloren die wichtigsten Schlachten in Sizilien, hätten sich lieber auf die Verteidigung im Heimatland konzentrieren sollen. Als wenn die Spartaner nicht genügt hätten.
Von der antiken Stadt sah ich erst nicht sehr viel. Das sollte sich auf spektakuläre Weise ändern. Erst spazierte ich durch die Altstadt, die wirklich sehenswert ist. Alles wirkt wesentlich heller als Catania, kein Wunder, die Gebäude sind nicht aus Vulkan-, sondern Sandstein errichtet. Da sie einige Jahrhunderte alt sind und dieses Material sehr weich ist, bröckelt alles herrlich vor sich hin. Ich liebe es.

Als Erstes begrüßte mich ein venezianischer Palast. So weit also hat es die Serenissima geschafft. Kein Wunder eigentlich. Ich schlenderte daran vorbei, immer am Meer entlang. Da ich den Rough Guide vergessen hatte, musste ich mich auf meine Intuition verlassen, auch keine schlechte Idee, man schaut sich einfach an, was einem gefällt. Lesen kann man immer noch. Der Nachteil ist, dass man Attraktionen übersehen kann, nicht einmal eine Ahnung hat, dass sie existieren. Sicher ging mir das heute auch so. Ich kam an einen Pool am Meer, in der eine riesige Papyrus-Pflanze wächst. Dafür ist die Stadt bekannt, was kaum zu übersehen ist, denn überall werden einem billige Drucke auf viel zu glattem Papyrus angeboten. Ich schlenderte weiter, durch die engen Gassen, die dem Ort eine magische Atmosphäre geben. Auch sind die Gebäude nicht bis zum Erbrechen restauriert, so dass die Zeit ihre Patina hinterlassen hat. Es kann wahlweise auch der saure Regen gewesen sein, denn einige Sandsteine sind recht schwarz.

Ich kam auf dem Hauptplatz an, dort steht der Dom, ein barockes Gebäude, das mich auf den ersten Blick nicht sehr faszinierte, also ignorierte ich es. Das kommt davon, wenn man den Reiseführer vergisst. Ich erkundete also weiter die Altstadt, die mich weiter gefangen hielt. Ich kann von so etwas nicht genug bekommen, einfach laufen und vergessene Winkel entdecken.
Dann kam ich wieder am Dom vorbei, diesmal von der anderen Seite. Da sah ich es. Aus dem Mauerwerk ragten dorische Säulen hervor. Nicht nur eine, mehrere, alle in perfekter Ordnung. Sie sind recht mitgenommen, also stehen sie hier schon sehr lange. Also beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Und siehe da, wenn man erst einmal das barocke Geschnörkel des Eingangsbereiches überwunden hat, tut sich innen eine ganz andere Welt auf. Will heißen, die Kirche hat einen antiken, dorischen Tempel komplett integriert. Innen sieht man es noch besser, hier sind alle Säulen erhalten. Stoisch stehen sie da, haben den Jahrhunderten getrotzt und nur so überlebt, weil aus dem Tempel eine Kirche geworden ist. Ich weiß allerdings nicht, ob ich schon einmal in einem kompletteren griechischen Tempel gestanden habe. Auch der Dom selbst ist von innen eindrucksvoll. Von den Rundbögen hängen schwere Leuchter, das Licht ist romanisch gedämmt, der Ort hat etwas Uraltes, ein Flair, der auf den ersten Blick von außen kaum wahrnehmbar ist. Ich lief die Säulen ab und versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal einen dorischen Tempel gesehen hatte. Sicher in Paestum vor zehn Jahren. Die Säulen sind stämmig und dick, die Kapitelle einfach. Einige Historiker haben diesen Stil als „männlich“ beschrieben. Der Ionische ist das weibliche Gegenstück, weil verschnörkelter. Was dann der korinthische darstellen soll, weiß ich nicht. Vielleicht ein illustres Zwitterwesen. Das Männliche am dorischen Stil kann ich jedoch nachempfinden.

Ich kam mir ziemlich dämlich vor. Ich habe beinahe eine der großartigsten Kirchen, die ich bislang in meinem Leben gesehen habe, aus purem Unwissen übersehen. Das ist beinahe unverzeihlich. Ich kam noch an einer Tempelruine vorbei, etwas außerhalb der Altstadt, aber die beeindruckte mich kaum. Daher machte ich mich bald darauf wieder auf den Weg. An die zwei Stunden war ich hier gewesen. Kaum genug, aber für einen ersten Eindruck ganz beachtlich. Wahrscheinlich werde ich mit Nina nochmals herkommen. Dann können wir Syrakus gemeinsam erkunden.

Meine Ängste den Camper betreffend stellten sich natürlich als unbegründet heraus. Niemand hat sich am Camper gestört oder gar vergriffen. Ich fuhr ab, ging noch kurz einkaufen. Für das Weihnachtsfest habe ich mir etwas Besonderes gegönnt: Wildschweingulasch. Ich werde es in der Tajine zubereiten, dann mit einem sizilianischen Rotwein auf das Fest anstoßen. So ist es zumindest geplant.
Ich fuhr noch ungefähr hundert Kilometer weiter, bin jetzt auf einem Campingplatz am Meer. Es ist schön hier, wenn auch „Irgendwo im Nirgendwo“. Ragusa ist nicht weit, vielleicht fahre ich morgen dorthin.
Bis jetzt fühlt sich alles ganz normal an. Ich vermisse bis jetzt Weihnachten also nicht. Mal sehen, wie es Morgen ist.