Ragusa Ibla

Endlich schien wieder die Sonne. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, dass es die Verhältnisse erlaubten, etwas zu unternehmen. Erst Wind, dann Regen, nun also wieder Sonne. Allerdings blieb es den ganzen Tag über empfindlich kalt, ein schöner sizilianischer Wintertag eben. Aber Kälte ist das Letzte, das mich von einem Ausflug abhält.

Ich war pünktlich wach, um den fahrenden Bäcker abzupassen, der gerade auf den Platz fuhr, um das herrlich frische, knackige Brot zu verkaufen. Am ersten Feiertag hatte ich den Fehler gemacht und eine Art Croissant gekauft, das mit Nutella gefüllt gewesen war. Es war so viel der viel zu süßen Creme gewesen, dass ich nach dessen Genuss nicht nur völlig beschmaddert war, sondern ebenfalls noch für einige Stunden unter Überzuckerung litt. Also beließ ich es beim Kauf des leckeren Weißbrotes, das ich selbst dem französischen Pain de Campagne vorziehe. Sie sind beide außen sehr hart, eine schöne, halb verbrannte Kruste, innen natürlich weicher, aber nicht zu weich, so dass man etwas zu beißen hat. Da es nicht mehr so heiß ist, kommt seit einiger Zeit Margarine hinzu, zusammen mit Marmelade wird daraus ein perfektes Frühstück.

Ich ließ mir Zeit, dann aber bekam ich ein schlechtes Gewissen, also riss ich mich von meiner Lektüre, dem letzten Teil der Berlintrilogie, fort und machte mich gegen zehn auf den Weg nach Ragusa. Im Grunde habe ich lange darauf gewartet, diesen Trip zu machen. Es lohnte sich.
Die Gegend um Ragusa erinnerte mich ein wenig an Irland oder die Bretagne. Überall verliefen steinerne Zäune, die Häuser sehen ebenso urig und rau aus wie im Norden Europas. Unverputzte Feldsteine haben einen besonderen Charme, das wissen die Leute aber inzwischen.
Bald schon kam ich in Ragusa an. Da ich nun wusste, wo ich hinwollte, parkte ich näher am Zentrum. Ich lief den gesamten Corso Italia ab, es war nicht viel los. Wahrscheinlich haben die meisten Leute frei, viele Geschäfte waren geschlossen, so dass alles etwas verschlafen wirkte. Die barocken Häuser der „Neuen Stadt“ sind allesamt etwas zerfressen und abgebröckelt, es wirkte auf mich manchmal ein wenig düster. Fast so wie Catania. Ich lief geradewegs auf den Ort zu, an dem ich das letzte Mal aufgehört hatte, nämlich am Übergang der neuen Stadt zur alten, direkt am Beginn der Treppen. Heute war es schön genug, ich bin mir auch sicher, dass die Bilder, die ich schoss, wesentlich besser wurden als andere vorher. Das Licht ist bei Sonnenschein natürlich besser.
Ich lief die Treppen hinab, war schneller unten, als ich gedacht hatte. Von oben wirkte die Strecke wesentlich länger.

Die Altstadt ist sehr atmosphärisch, von oben aus gesehen und auch, wenn man mitten drin steht. Ich begann meine Tour in eine der vielen Kirchen. Wie die meisten war auch sie aus der Barock-Zeit. Was anders war, sah ich auf den ersten Blick. Wenn wenig Geld da ist, werden die Leute einfallsreich. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Hier sah ich auf den ersten Blick, dass sich nicht ein Stück Marmor oder Granit im Raum befand. Die Säulen wiesen alle diese geäderten Grauschleier auf, die Maler auftragen, wenn sie Marmor antäuschen wollen. Hier war es eine Spur zu eindeutig, selbst von Weitem. Auch einige Altäre sahen nicht so aus, als hätten echte Künstler oder auch gute Handwerker gearbeitet. Die falschen Granitplatten, kunterbunt und grob bemalt, stachen sofort ins Auge, versuchten gar nicht erst, den Betrachter zu täuschen. Ich musste schmunzeln, es war in jedem Fall etwas anderes. Ich finde es nicht schlimm, doch frage ich mich, warum man diesen Firlefanz veranstaltet. Warum gerade eine Kirche nicht einfach gestalten, sie als Ort des Glaubens ohne Schmuck auskommen zu lassen? Sie hätte allemal mehr Atmosphäre als die ganzen überladenen Bauten in Europa. Auf der anderen Seite hätten wir dann wesentlich weniger Kunstwerke zu sehen. Auch nicht schön.
Ich schwenkte danach auf die Via de Mercato ein, befand mich sofort in den Eingeweiden der Altstadt. Ich folgte meinem Instinkt, sah mir die Straßen an. Manchmal blieb ich an verfallenen Bauten stehen, auf einem sah ich ein Schild „Vendesi“. Ich frage mich dann oft, wie es wäre, so ein Gebäude wieder bewohnbar zu machen. Ich verfolge das immer in Gedanken, sehe mir die Fassaden an, ob sie Risse aufweisen, schaue nach, ob das Dach noch brauchbar scheint. Ich überlege, was es kostet, Experten anzuheuern, die das Haus abstützen, neue elektrische Leitungen legen. Ich bin natürlich immer mit dabei, helfe mit, schon weil dann die Kosten sinken. Wenn alles fertig ist, ziehe ich ein, überspringe meist die Inneneinrichtung. Wie ist es, hier zu wohnen, wie sind die Nachbarn, würden sie mich für den Rest meiner Tage als Aussätzigen behandeln? Würde ich überhaupt hier leben wollen? An diesem Punkt höre ich meist auf. Genug geträumt. Heute auch. Aber es ist trotzdem immer wieder anregend.

Ragusas Altstadt kann sich sehen lassen. Sie ist nicht überlaufen, vielleicht sogar eine Spur zu ruhig. Ich brauchte dringend einen Kaffee, fand aber erst am Dom eine Bar. Hier wird Ragusa sogar beinahe grandios. Eine Art Prachtstraße führt zum – natürlich – barocken Dom, dessen Inneneinrichtung aus echtem Marmor und Granit besteht. Dafür hatten sie das Geld. Ansonsten sah ich hier die sicher beeindruckendste Jesusstatue, die ich je gesehen habe. Dieser Jesus hing noch nicht am Kreuz, dafür aber war er bis ins Mark geschunden. Seine Knie waren bis zu den Knochen aufgerieben, in seiner Brust klaffte ein riesiges, blutiges Loch. An den Beinen hatten sich die Fesseln bis ins Fleisch geschnitten. Da die Statue bemalt war, sah sie noch leidender aus. Ein Spinner, der sich so etwas für die Sünden dieser unvollkommenen Menschheit antun lässt. Aber mich fragt niemand.

Ich lief noch weiter in Richtung Park, der das Ende der Altstadt darstellt. Hier setzte ich mich in die Sonne und verzehrte meinen Lunch. Die Strahlen schienen mir direkt ins Gesicht, beinahe erinnere ich mich nicht mehr an dieses Gefühl. Dabei ist es nicht so lange her, einige Wochen nur, doch wirkt es, als wäre das schon aus dem Gedächtnis verbannt. Genauso wie das Gefühl, in Schnee zu laufen oder die knackige Kälte auf der Haut zu spüren. Aber das ist natürlich bereits länger her.
Nach meiner kurzen Pause machte ich mich auf den Weg zurück, genoss noch einmal die alten Straßen, bevor ich wieder nach oben stieg. Inzwischen war es weit nach zwei, auch die letzten Geschäfte hatten geschlossen, die Stadt wirkte nun völlig tot. Also war es an der Zeit, mich wieder auf den Heimweg zu machen. Das Warten auf den Besuch hier hat sich in jedem Fall gelohnt. Es ist eine atmosphärische Stadt, die sicher nur von wenigen Touristen besucht wird. Somit hat sie ihre Patina bewahrt, denn das ganz große Geld für viel zu perfekte Restaurationen bleibt bislang aus.
Morgen fahre ich endlich weiter, was ich mit ruhigem Gewissen tun kann. Denn wenigstens habe ich die Gegend ein bisschen erkundet.