Granada

Es war eine bitterkalte Nacht, die ich in einer Art Halbschlaf zubrachte. Trotz einer zeitigen Nachtruhe wachte ich Punkt 7 Uhr auf. Marokkanische Zeit. Also begann mein Tag wieder einmal erst nach 9 Uhr. Zusätzlich brauchte ich lange, bis ich einigermaßen in Schwung kam, obwohl sich dieser heute insgesamt nicht einstellen wollte. So begann der Tag langsam, ließ dann aber mächtig nach. Es half kein Gejammer, auch energielose Zeiten müssen Reisende durchstehen.
Ich packte mich ein, so gut es ging, das erste Mal seit Wochen zog ich Socken an, eine Strick- und eine Sommerjacke, trotzdem fror ich noch recht lange.

Die Bushaltestelle war nur einige Meter vom Campingplatz entfernt, ideal für die Stadtbesichtigung also. Während der Fahrt dachte ich an mein erstes Mal in Granada zurück, das war nun schon sieben Jahre her. Ich erinnerte mich noch recht gut daran, so dass ich sicher den einen oder anderen Ort wiederentdecken würde. Granada stellte sich als leicht navigierbar heraus, die Stadtpläne des Rough Guides waren genau und die Straßen gut ausgeschildert, so dass ich im Handumdrehen die Kathedrale gefunden hatte, die sich allerdings in der Silhouette der Stadt etwas verliert. Ich weiß nicht warum, doch verspüre ich im Augenblick nicht die geringste Lust, mir Kirchen anzuschauen. Es ist ein Zustand, der bereits seit einigen Jahren anhält. Früher habe ich immer zu aller erst die Kathedrale angesteuert, habe die riesigen, erhabenen Schiffe bewundert, die schon so viele Gläubige transportiert haben. Etwas von diesem Zauber habe ich immer spüren können, besonders wenn es in den Kirchen ruhig zuging. Dann habe ich mit dem reden können, was wir als Göttlichkeit bezeichnen, habe stumme Zwiegespräche geführt, gab mir selber Antworten, die tief in mir steckten und nur an diesen Orten an die Oberfläche zu dringen schienen. Ich habe das so gut genutzt, wie ich konnte. Irgendwann, den genauen Zeitpunkt weiß nicht mehr, habe ich gemerkt, dass dazu kein besonderer Ort notwendig ist, dass ich die so begehrten Antworten immer in meinem Herzen trage, dass selbst Fragen kaum mehr notwendig sind. Seither meide ich Kirchen, weil sie nur noch ein Haufen Steine sind, die für mich keinerlei spirituelle Bedeutung mehr haben. Ich sage nicht, dass es jedem so gehen muss und auch nicht, dass jeder es so machen muss wie ich. Aber wenn man erst einmal merkt, was wirklich um uns vorgeht und vor allem was in uns steckt, werden Orte oder Symbole zu bloßen Nichtigkeiten, die man überwunden hat.

Das waren die Gedanken, mit denen ich die Kathedrale Granadas hinter mir ließ. Mich interessierte etwas anderes, der Weg entlang der Alhambra, die ich erst morgen besuchen möchte. Somit näherte ich mich dem maurischen Palast auf sehr langsame Art, denn ich war aus auf besonders schöne Aussichten. Vorher jedoch kam ich an einigen Kleinoden vorbei. Nur zum besseren Verständnis, ich lief den Carrera del Darro, direkt am Fluss, entlang, auf der anderen Seite erhob sich die Alhambra und begleitete mich sozusagen. Ich erinnerte mich dunkel an diesen Weg, den ich bereits vor sieben Jahren entlanggegangen war. Damals waren hier kaum Menschen unterwegs gewesen, das war heute anders. Ganze Touristenhorden schoben sich hier voran. Wer konnte es ihnen verdenken? Es ist eine erhebende Weise, sich auf diesem Weg Europas Top-Touristenattraktion zu nähern. Ich kam vorbei an den arabischen Bädern, die anscheinend kaum jemanden interessieren, denn fast alle ausländischen Touristen gingen daran vorbei. Ich trat natürlich ein, erinnerte mich wieder daran. In maurischen Zeiten war es gang und gäbe, einige Male im Monat ein Bad zu besuchen. Die Araber wussten, was gut war, sowohl vom hygienischen als auch vom geistigen Standpunkt aus gesehen. Als die Christen die Alhambra 1492 eroberten, wurden die Bäder fortan nicht mehr genutzt. Ich möchte jetzt nicht ins Philosophieren verfallen, was Dreck und Religion angeht. Das darf sich nun jeder selber denken, doch meine Antwort ist hiermit einigermaßen klar, oder?
Die Bäder haben überlebt, weil sich irgendwann eine Wäscherei darin etabliert hat. Die einzelnen Räume sind in einem guten Zustand und das ganze System aus kalten und heißen Bädern ist dank der laminierten Erklärung in Englisch sehr gut verständlich.
Wie es allerdings kommen musste, kam gerade eine spanische Schulklasse hinein, als ich dabei war, den zweiten Raum zu betreten. Warum ich? Die Spanier waren zwar weniger aufdringlich als die Marokkaner, doch genauso laut, was in den Räumen wunderbar widerhallte und mich zu einer Verkürzung meines Aufenthalts hier veranlasste. Sei es drum, ich hatte gesehen, was ich wollte. Als Nächstes besuchte ich das archäologische Museum, eine kleine, aber feine Sammlung von Artefakten von der Stein- bis zur Römerzeit. Wie auch in Marokko war hier das Gebäude mindestens ebenso interessant wie die Ausstellungsstücke. Leider war die Erklärung nur in spanisch, aber am Ende schien mir das egal. Kurz bevor die Schulklasse, die mir gefolgt war, das Museum betrat, war ich fertig und konnte nun befriedigt und unbehelligt weitergehen. Dieses eine Mal hatte ich sie überlistet, es bereitete mir eine ungemeine Freude.

Spaziergang zum Albaicin mit Blick auf die Alhambra

Meinen Weg setzte ich in Richtung Sacramento fort, den Behausungen der Zigeuner, die hier früher ihre Wohnungen in die Felsen geschlagen haben. Davon war nicht mehr viel zu sehen, denn heute haben sie ihre Häuser an die Felsen gebaut. Es kann natürlich sein, dass diese Höhlen im Innern noch existieren. Heute stellt der Bezirk eine Ausgehmeile mit vielen Flamencobars dar, ein Mensch mit stärkeren Drang zum Nachtleben kann das sicherlich herausfinden. Doch der Ausflug lohnte sich trotzdem, denn ich hatte herrliche Ausblicke auf die Alhambra. Ganz allein konnte ich sie genießen, denn anscheinend finden Touristen diesen Weg nicht im Hellen. Mich störte es nicht, im Gegenteil. Danach setzte ich meinen Weg fort in Richtung San Nicholas, laut Rough Guide der Ort, von wo aus man den schönsten Blick auf die Alhambra hat. Dank dieser Aussage hielten sich dort bereits viele Dutzend Touristen auf, es war schon fast ein Hauen und Stechen für das beste Foto. Irgendwann kam auch ich an die Reihe, sogar einen Sitzplatz konnte ich ergattern, was die beiden ältlichen Ehepaare hinter mir in einigen Verdruss stürzte, denn diese hatten wohl auf meinen Verzicht spekuliert. Nichts da, jetzt war ich an der Reihe für ein paar Fotos und einige Minuten Ausruhen. Lange hielt ich die Vier jedoch nicht ab, denn der Rummel wurde mir zu viel. Ich spazierte lieber noch ein wenig durch das Albaicínmit seinen weißgetünchten Häusern, das älteste Stadtviertel Granadas. Es ist verwinkelt wie die Medinas Marokkos, dennoch kann ich diesen Vergleich nicht zulassen, denn es ist bei Weitem nicht so belebt. Ich ging weiter in Richtung Caldereria Nueva, laut Aussage der Campingplatzbetreiber eine Straße mit marokkanischen Cafés und Geschäften. Wäre ich nicht gerade dort gewesen, hätte ich dem Ort etwas abgewinnen können, doch es war halt nicht so. Eine Reihe von überteuerten Restaurants und Geschäften, alle in einer Art Shisha-Kneipen-Aufmachung, wie man sie auch in Kreuzberg sieht, rochen zu sehr nach touristischem Nepp.

Danach verlor ich mich auf der anderen Seite der Reyes Catolocos, bald schon wurde es weniger touristisch, was man daran erkennen konnte, dass die Speisekarten nur noch auf Spanisch aushingen. Ich versuchte mir den einen oder anderen Ort zu merken, um vielleicht morgen ein Tapa dort auszuprobieren, sicher bin ich mir jedoch nicht, ob ich es noch mal finde. Irgendwann wurden die Speisekarten wieder mehrsprachig, ich war in der „Navas“ gelandet, was für mich wie eine Art kulinarische Meile Granadas aussah.
Seit vielen Stunden stiefelte ich nun durch Granada, so langsam ging mir die ohnehin nur sporadisch zur Verfügung stehende Energie aus. Ich kaufte nur noch rasch ein, dann fuhr ich zurück zum Campingplatz. Der Busfahrer des 360er Buses sprach kein Wort Englisch, verstand aber wohl, dass ich beim Campingplatz aussteigen wollte. Überhaupt war er eine richtige Marke. Während der gesamten Fahrt schaffte er es nicht einmal 10 Sekunden, seinen Mund zu halten, unterhielt sich mit mindestens drei Fahrgästen gleichzeitig. Ich erblickte ein Schild über der Fahrerkabine:
Prohibido hablar con el conductor durante el viajo.
Ich fragte mich, ob das für den „Konduktor“ auch galt, wahrscheinlich aber nicht. Jedenfalls amüsierte ich mich über diesen Wasserfall der Worte köstlich, denn meine Erfahrung mit Spaniern bestätigt wieder einmal das Vorurteil, dass dieses Völkchen außerstande ist, einmal den Mund zu halten. Schön klingt es trotzdem.
Morgen nehme ich das Glanzstück in Angriff, die Alhambra. Ich habe sogar Washington Irving und seine „Tales of the Arabian Nights“ dabei, das ich nach Raskolnikow lesen möchte.
Ich hoffe auf eine bessere Nacht und Form am morgigen Tag.