Altafulla

Ich bin immer noch auf dem malerischen Campingplatz, konnte mich heute Morgen nicht dazu durchringen abzufahren. Es lag mit Sicherheit daran, dass ich es wieder einmal nicht geschafft hatte, rechtzeitig aufzustehen, denke mittlerweile darüber nach, mir den Wecker zu stellen. Was für eine traurige Angelegenheit, doch empfinde ich es als Verschwendung, erst nach neun Uhr den Tag zu beginnen. Heute Morgen kam noch hinzu, dass alles länger dauerte, so dass ich den Platz nicht vor halb zwölf verließ. Also bleibe ich noch eine Nacht.
Ich kam danach nicht über den Strand hinaus, genauer gesagt blieb ich in einem Strandcafé hängen. Da ich noch keine Silbe geschrieben hatte, lud es mich geradezu ein. Wie ich merkte, gab es auch Wifi, was ein wenig gegen die Effizienzregeln verstößt, die ich mir auferlegt habe, doch heute sollte es einmal nicht viel ausmachen. Im Gegenteil, der heutige Tag gehörte der Geschichte, die sich entwickelt. Ich benötigte etwas mehr Zeit als sonst, um auf meine Wortzahl zu kommen, die ich mir vorgenommen habe, doch machte das nichts. Während des ganzen Tages dachte ich darüber nach, wie sich der Roman entwickeln könnte, zwar bin ich noch nicht in letzter Instanz hindurch, doch habe sie bereits ein gutes Stück im Kopf ausgearbeitet, muss sie praktisch nur noch aufschreiben. Somit ist der Tag, auch wenn er spät startete, durchaus erfolgreich.

Ich konnte nicht umhin, zwei deutschen Ehepaaren zu belauschen. Manchmal findet man Weisheiten an den unwahrscheinlichsten Orten, die einfachsten Menschen können sie in einem auslösen. So sprach ein Paar vom Geldausgeben. Sie redeten davon, dass sie es nicht verstehen konnten, dass junge Menschen ihr Geld für Feuerwerkskörper ausgeben könnten. Sie selber würden dafür lieber guten Fisch kaufen oder Spargel. Ganz nach deutscher Manier ging es so weiter, die Preise wurden verglichen, besonders günstige Angebote bei Carrfour oder Auchan erwähnt. Meine Lektion jedoch hatte ich bereits gelernt. Während ich es verstehen kann, dass man Geld für qualitativ gute Lebensmittel ausgibt, verstehe ich ebenso, dass anderen Leuten so etwas völlig egal ist und sie stattdessen lieber einige Sekunden des feuerwerklichen Spektakels frönen. Wer sind wir denn, dass wir andere Menschen nach ihren Vorlieben beurteilen? Ich habe mich lange gefragt, warum es in uns steckt: das Bewerten. Es ist die Mutter allen Unglücks, aller Feindschaft und Missgunst. Wahrscheinlich wird sie aus einem alten Widersacher heraus geboren, der Angst, diesmal vor dem Anderssein der anderen. Beides hängt also zusammen, wenn ich die Angst besiege, gewinne ich dadurch die Möglichkeit, andere zwar zu sehen, nicht aber beurteilen zu müssen. Und somit nicht als Gefahr zu sehen. Das rechne ich mir zumindest so aus. So haben diese vier älteren Herrschaften mir eine Lektion erteilt, von der sie gar nicht wissen, dass sie es getan haben. Das macht nichts, ich bin ihnen dankbar und sicher, dass es an der Zeit war, das einmal besser zu verstehen. Ich weiß, dass ich alles andere als frei davon bin, andere Menschen zu beurteilen, doch möchte ich in Zukunft auch daran arbeiten. Denn es gehört zur Freiheit dazu, auch den anderen diese zuzugestehen, immer und überall. Und im Grunde hat man nur das Recht, sich selber zu beurteilen, das jedoch tut am Ende immer mehr weh als alles andere. Deshalb tut das auch kaum jemand.

Erst gegen halb drei machte ich mich wieder auf, riss mich los von meinem Platz im Café, auch weil der Akku leer war. Ich hatte mich nicht besonders gut auf diesen Tag vorbereitet, jedoch konnte das Nachbardorf Altafulla nicht weit sein. Ich lief die Klippen hinauf, die den örtlichen Strand begrenzten, kam auf eine Art implementierten, breiten Wanderweg – vorbei an modernen Villen. Nach wenigen Hundert Metern konnte ich rechts abbiegen und ein kleiner Pfad führte mich durch einen Wald und an den Klippen vorbei über den Hügel. An deren Ende war ein mittelalterliches Castell, das heute ein Hotel oder Restaurant beherbergt. Genau habe ich nicht nachgesehen. Jedenfalls ist es ein stattliches Gebäude, so hoch oben über den Klippen mit herrlichen Aussichten aufs Meer.
Mein Weg führte mich am Strand entlang, Altafulla lag zu meiner Linken und war fast näher als ich es erwartet hatte. Zwar schaute ich kurz bei den Ausgrabungen einer römischen Villa im neuen Teil der Stadt vorbei, doch konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie mir näher anzusehen. Mein Sinn stand mehr nach der mittelalterlichen Stadt, zu der ich jetzt langsam aufstieg. Das Wetter änderte sich leider und ich befürchtete Regen. Das war jedoch unbegründet.

Altafulla ist mit Sicherheit einen Abstecher wert. Die Stadt ist klein und leicht zugänglich, hat dabei trotz Renovierungsarbeiten ihren Charme behalten. Ganz oben thront das Castell und die Kirche, die leider nicht zugänglich sind, doch ruhte ich mich dort auf einem geschmackvoll angelegten Platz aus. Sogar die Sonne brach hervor und verpasste mir wieder einmal einen kleinen Sonnenbrand, was allerdings kaum noch auffällt, da ich ohnehin bereits die Farbe eines gekochten Lobsters angenommen habe. Die Stunde war bereits sehr weit fortgeschritten, so dass ich mich auf den Weg zurückmachte. Wie immer braucht man für eine Strecke, die man kennt, weniger Zeit, so kommt es mir zumindest vor. Unterwegs fand ich noch einige Kräuter, Rosmarin und Thymian, von beiden nahm ich Exemplare mit. Leider ist der Rosmarin aus den Bergen, den ich vor einigen Tagen gepflückt hatte, am Eingehen. Vielleicht ist es mir nicht vergönnt, Düfte zu sammeln. Jedenfalls habe ich mich entschlossen, heute Abend Tapas essen zu gehen, weil ich diesen Ort wirklich mag und ich es genossen habe, hier zu sein. Da kann man auch mal ein wenig feiern.
Das gönne ich mir jetzt.