Assos

Der Wind, der Wind….. So etwas Eisiges habe ich schon seit Monaten nicht erlebt. Der Camper schüttelte sich morgens, doch ich wurde getäuscht. Die Sonne schien glorreich und es sah nach einem wundervollen Tag aus. Den ersten Schritt aus meiner „Wohnung“ bereute ich, denn ein Hauch streichelte meine Wangen, der sofort alle Gesichtszüge erstarren ließ.

In den wenigen Momenten, in denen es nicht windete, war es angenehm warm, ich nutzte jede Sekunde. Doch dann wurde es zu viel, schon um halb neun verzog ich mich nach drinnen, beobachtete die Welt um mich herum aus dem Fenster. Es war ein bizarres Schauspiel, draußen der schönste Sonnenschein und jede Faser in mir wollte raus, doch die wild um sich fuchtelnden Olivenäste um mich herum zeigten mir, dass es ein Trugbild war. So also machte ich das Beste, was man in so einer Situation machen kann: erst einmal einen Kaffee, dann etwas arbeiten. Ab und zu sah ich nach draußen, sah das Meer, hörte es rauschen, die Sonne, die durch die Fenster schien, erwärmte mich sogar ein wenig, denn das muss man sagen, den Wind spürte man im Grunde bis hier hinein. Meine Session wurde jedoch gut, eine gewisse Gemütlichkeit und das Wissen, bei diesen Bedingungen ohnehin nichts zu verpassen, gaben mir die Ruhe, die ich benötigte.
Als ich fertig war, brach ich auf. Ganz in der Nähe, ca. 20 Kilometer entfernt, liegt der Ort Assos. Die Fahrt dorthin war grauenhaft, weil sich die Straßen in einem Zustand wie die heutige SPD befinden. In Auflösung. Trotz dieser Tatsache wurde ich ständig überholt, in waghalsigen Manövern, die frei waren von jeder Vernunft. Ich fuhr vorbei an Ferienanlagen, Restaurants mit Campingplätzen im Hintergarten, Hotels. Alles war einsam, völlig leer. Diese Spätsaison hier hat etwas Eigenartiges, beinahe schon Gespenstisches. Vor wenigen Wochen in Griechenland waren wenigstens noch einige Urlauber unterwegs gewesen, jetzt ist niemand mehr da. Wirklich niemand, ich bin der Einzige, auch auf dem Campingplatz/Hotel. Eigentlich macht es nichts, zumindest nicht mehr, vor einiger Zeit wäre das noch zu einsam gewesen. Hier stört mich das allerdings nicht.

Ich erreichte Assos nach einer gewaltigen Steigung, die wieder den vollen Einsatz meines Gefährts erforderte. Der Wind hier oben war noch zynischer, also beißender. Eigentlich hätte ich Handschuhe gebraucht, aber nach so vielen Monaten erinnerte ich mich viel zu spät daran, dass ich tatsächlich welche dabei hatte. Erst jetzt habe ich sie gefunden, nachdem der Tag fast vorbei ist. Da ich meist die Kamera in der rechten Hand halte, wird diese bei solchen Verhältnissen immer besonders rasch kalt.
Aber genug gejammert.

Ich kämpfte mich durch die Altstadt auf dem Berg hindurch. Selbst die Souvenirverkäufer hielten es nicht für angebracht, ihre Geschäft zu öffnen. Ab und zu begegnete ich einigen Touristen, die wie ich eingemummelt und kaum erkennbar ihren Weg zur Akropolis suchten. Es ist ganz sicher ein wundervoller Ort, aber ich konnte ihn kaum genießen. Hatte ich mir eigentlich vorher geschworen, heute keine Ausgrabungen anzusehen, konnte ich mich dann doch nicht davon befreien. Ich war nun mal hier, wer weiß, ob ich es jemals wieder sein werde. Eher unwahrscheinlich. So schaute ich mir wieder eine Trümmertour an, einige dorische Säulen, die einst zu einem mächtigen Tempel gehört hatten, standen noch. Die Aussicht jedenfalls war wundervoll, Lesbos hüllte sich in ein wolkiges Kleid, die See unter mir glitzerte bewegt, die Wellen von oben sahen glatt, doch schillernd aus. Eine Reisegruppe deutscher Rentner hatte sichtlich gar keinen Spaß an der Führung. Sie suchten Schutz, ausgerechnet vor der einzigen Infotafel. Mein Bitten, diese zumindest für einen Moment freizugeben, damit ich sie lesen könne, quittierten die Alten unwillig und mit verzehrten Gesichtern. „Hey guys, ich würde eure Renten bezahlen, wenn ich arbeiten würde. Bedenkt das mal.“ sagte ich natürlich nicht.

Auf dem Berghang unter mir entdeckte ich weitere Ruinen, die ich nicht einordnen konnte. Also lief ich an der Hauptstraße in Richtung Hafen, der sicher zwei Kilometer entfernt ist von der Oberstadt. Hier entdeckte ich den Eingang zu der Ausgrabungsstätte, zwar gab es ein Tickethäusschen, aber niemand war drin, alles wirkte ausgestorben. Eigentlich lohnt sich der Besuch der Akropolis nicht, die Stadt darunter aber schon. Es begann mit einer Gräberstraße. Überall lagen Sarkophage, aus allen möglichen Epochen, bunt durcheinander gewürfelt, ohne Ordnung oder Sinn. Es gefiel mir. Ein bisschen wie mein Leben. Eine Familiengruft schaute ich mir an, das Deckengewölbe ist auch nach mehr als zweitausend Jahren noch intakt, alles ohne Mörtel, die abgerundeten Steine halten sich selbst in Waage.
Ich lief weiter, entdeckte noch das eine oder andere Gebäude. Ganz unten fand ich ein fürchterlich restauriertes Theater. Alles sehr neu, aber warum nicht? Die Aussicht war einmal mehr bestechend, es muss früher ein Vergnügen gewesen sein, ins Theater zu gehen, schon allein wegen der dramatischen Atmosphäre. Der Panoramablick gehörte anscheinend immer beinahe dazu.
Danach hatte ich endgültig genug von Ruinen.

Den Rest der Strecke zum Hafen überbrückte ich rasch, es ging recht steil bergab. Er liegt malerisch, auch wenn man ihm ansieht, dass er eigentlich eher eine gehobene Klientel erwartet. Überall Restaurants, die frischen Fisch anbieten, alles ist sauber, die alten Häuser sind aufs Feinste restauriert. Eine willkommene Abwechslung also, denn meist ist es hier in Meeresnähe etwas schmuddelig. Natürlich schonte ich mein Budget und gönnte mir keine warme Mahlzeit. Wo kommen wir denn dahin?
Bald schon kannte ich jeden Winkel und machte mich wieder auf in Richtung Camper, der nahe der Akropolis stand. Dort ruhte ich mich aus und las ein wenig im Rough Guide. Morgen fahre ich weiter, weiß aber noch nicht genau wohin. Izmir werde ich in jedem Fall besuchen, vielleicht aber noch nicht morgen. Doch die Gegend darunter sieht mir interessanter aus als die, in der ich mich jetzt aufhalte. Ein Problem habe ich jedoch: Ich kann keine Trümmer mehr sehen. Pergamon, der Ort also, wo die berühmten Friese hingen, die sich jetzt angenehmer Weise in Berlin befinden, werde ich deshalb nicht sehen. Ob ich Ephesus oder Milet ansehen werde, weiß ich noch nicht. Im Augenblick ist mir eher nach kleinen, romantischen Fischerhäfen. Vielleicht in einigen Tagen auch nach Izmir. Vielleicht kann ich es verbinden, im Dorf wohnen, aber Ausflüge in die Großstadt machen.
Der Wind jedenfalls hat kaum nachgelassen. Es ist ziemlich kühl, mir steht sicher eine der kältesten Nächte seit Langem bevor. Jetzt heißt es, Kerzen entzünden, vielleicht wieder eine Wärmflasche bereit machen.
Ach wie erschöpfend das manchmal alles ist.