Sarajevo

Früh genug, aber nicht so früh, wie ich wollte, begann mein Tag gegen acht. Hatte sich mein Rücken schon lange nicht mehr gemeldet, wollte er heute auf sich aufmerksam machen. Vielleicht war der Start deshalb so langsam. Ich wünschte, ich würde die Ursache für diese mir nicht angenehme Schwäche finden.
Es hat immer etwas Besonderes, eine neue Stadt zu entdecken. Das beginnt schon mit dem Herausfinden des Weges, der Fahrmöglichkeiten. Die Rezeptionistin beschrieb mir die Richtung, in die ich laufen musste, um zur Straßenbahn zu gelangen. Ich war nicht sicher, ob die ungenauen Angaben zum Ziel führen würden. Doch allen Unkenrufen zum Trotz fand ich diesen Verkehrsknoten mit Leichtigkeit, es führt eigentlich kein Weg vorbei. Das nächste Hindernis war das Kaufen der richtigen Karte. Der Verkäufer verstand keine der Sprachen, die ich ihm anbieten konnte. Am Ende ist so etwas aber immer egal, denn es gibt andere Mittel, sich zu verstehen. Straßenbahn Nummer drei, für drei Mark. Einfacher ging es nicht. Er half mir sogar beim Stempeln der Fahrkarte, sehr freundlich und zuvorkommend. Wenn doch so mancher BVG-Angestellter eine ähnliche Dienstleistungseinstellung hätte wie die Angestellten hier.
Die Straßenbahn stand schon da, in Erwartung gefüllt zu werden. Es war ein alter Waggon mit sicher 30 Jahren auf dem Buckel, mit Plastiksitzen, denen man ansah, dass sie seit geraumer Zeit ihren Dienst taten. Also rumpelten wir los, langsam ächzend, doch unaufhaltsam. Wir fuhren durch die Vororte Sarajevos, Wohnsilos wie im Märkischen Viertel oder Marzahn. Das dauerte eine ganze Weile, beeindruckte mich aber nicht sehr, denn, wie gesagt, in vielen Städten muss man sich durch eine hässliche Randzone kämpfen. Das Schöne ist immer, dass ich nie weiß, wo ich eigentlich aussteigen muss. So ist man die ganze Zeit angespannt, passt auf, bekommt aber auch sehr viel mit. Manchmal war ich geneigt, einfach aus dem Zug zu springen, doch dann sah ich irgendwo ein Schild: Old Town 4 Km. Das wäre wohl etwas zu früh gewesen. Nach geraumer Zeit wurde die Stadt etwas hübscher, ohne allerdings wirklich in Schönheit zu erstrahlen. Zumindest verschwanden allmählich die Silos. Dann war es so weit, instinktiv wusste ich, wo ich aussteigen musste. Es war der perfekte Ort, denn kaum tat ich einige Schritte, war ich direkt auf dem Basar. Es war fast wie in Fez oder Marrakesch, natürlich wesentlich sauberer und die Händler waren auch nicht aufdringlich. Ich hörte ein blechernes Klopfen, das ich kannte, ging dem Geräusch nach. Ich lag richtig, denn wenige Meter später stand ich im Viertel der Blecharbeiter, die hier in ihren Geschäften arbeiten und gleichzeitig ihre Waren – Töpfe, Kaffeekannen, Pfeffermühlen etc – anbieten. Ich erinnerte mich genau an das Viertel in Fez, in der der gleiche, blecherne Rhythmus geherrscht hatte. Einfach wundervoll. Hier kommen also Orient und Okzident zusammen. Der Minarett einer alten Moschee ragte in den Himmel, ein wenig entfernt steht das Gegenstück, der Kirchturm der Gemeinde hier.
In einiger Entfernung zum Basar sah ich ein eigentümliches Bauwerk, orientalisch, keine Frage, das wollte ich mir anschauen. Es erinnerte mich an die prächtigen Tore in den Königsstädten Marokkos. Es sollte eine traurige Erfahrung werden. Das Gebäude ist wirklich prächtig, war einmal reich verziert, ist aber nun eine Ruine. Früher war es das Rathaus, bevor es irgendwann zur Nationalbibliothek Bosniens wurde. Bis 1992 erfüllte der Prachtbau seinen Zweck, dann entschieden einige Serben, dass man die bosnische Kultur am besten in seinen Grundfesten erschüttert, wenn man sie verbrennt. Nach einigem Beschuss hatte man nicht nur das Gebäude stark beschädigt, sonder auch 90% ihres Inhalts, unersetzbare historische Schriften.
Es ist doch immer wieder das gleich: Berlin 1934, Sarajevo 1992, es steht auf der gleichen Stufe. Das Gebäude wird gerade wieder aufgebaut, aber wie ersetzt man historische Bücher, die nicht mehr da sind?

Ich lief weiter in Richtung Basar, entdeckte einen überdachten historischen Bau, der viele Geschäfte enthält. Ich konnte mich nicht wehren, kaufte eine garantiert echte Adidasbrille für 6 Euro. Klar, vollkommen echt. Hoffentlich hält sie ein paar Wochen. Ganz offen werden hier auch (echte) Guccitaschen und andere Markenartikel für Spotpreise angeboten. Wer das glaubt, ist natürlich selbst schuld. So etwas nennt man Preisdiskriminierung, letztlich ähnliche, im Preis und Qualität stark geminderte Ware anzubieten, um einen anderen Markt zu bedienen. Sehen wir es doch so, Leute wie ich würden sich nie eine Adidasbrille kaufen, daher verliert Adidas durch dieses Geschäft auch nichts. Und der Name wird eigentlich auch nicht durch den Schmutz gezogen, denn jeder weiß, dass es Fälschungen sind. Eigentlich ist es Gratiswerbung. Nur mal so zum Nachdenken, auch wenn ich weiß, dass nicht jeder meine Auffassung teilen wird.
Die Straßen hier sind angefüllt mit Touristen, ohne dass es jedoch übermäßig voll ist. Einige westliche sind dabei, aber nicht sehr viele, vor allem Holländer. Dieses reiselustige Völkchen findet man wirklich überall. Ich genehmigte mir Cevapcici, das Nationalgericht, das es hier überall gibt. Herzhafte Küche auf Fastfood-Niveau, füllend und gut. Einen türkischen Kaffee habe ich derweil noch nicht ergattern können, obwohl die Kannen dafür hier überall angeboten werden. Aber es ist ja noch früh am Tag.
Ich lief noch eine Weile durch die ansehnliche Altstadt, besichtigte dabei die Moschee, die von „Ungläubigen“ zwar zurzeit nicht betreten werden darf, aber die man zumindest von außen besichtigen kann. Bis zum 7.8. wäre es noch möglich gewesen, sie gegen Entgelt zu sehen, jetzt nicht mehr. Eigentlich schade, denn ich habe noch nie eine Moschee von innen gesehen. Jetzt rächt sich, dass ich am falschen Tag in Casablanca war, aber das sind müßige Gedanken. Auch entdeckte ich eine alte Karawanserei, hier stiegen jahrhundertelang die Reisenden ab, um sich auszuruhen. Sarajevo muss früher ein wichtiger Verkehrsknoten gewesen sein, was die Stadt atmosphärisch noch heute widerzuspiegeln scheint. Ich habe mir vorgenommen, dort morgen endlich meinen bosnischen Kaffee zu trinken, so heißt er hier. Kein Wunder, dass mir niemand einen türkischen bringt, den haben sie einfach nicht. Es ist doch immer wieder dasselbe, in Griechenland darf mir das nicht geschehen. Letztlich handelt es sich immer um das gelicheGetränk, ob türkisch, bosnisch oder griechisch.

Nach der Altstadt tingelte ich noch ein wenig durch die neue. Ich sah hier einige interessante Fassaden, meist Artdeco. Auch ein modernes Einkaufszentrum fand ich, was ich immer wieder faszinierend finde, doch auch einige Bosnier können es sich leisten, echte Markenartikel zu kaufen. Die anderen kaufen dann eben die anderen. Bei meinem Spaziergang sah ich zwei alte Bosnier Schach spielen. Es war eines der Spiele, die sich auf dem Fußboden befinden, sicher 4×4 Meter groß mit Plastikfiguren. Die Anfangsstellung spielten diese beiden „Generäle“ so schnell, dass ich kaum etwas mitbekam. Wie die Kaiser standen sie hinter ihren Truppen, bewundert von den Schaulustigen. Es war eine echte Schlacht, bei der es Verluste und auch einen Sieger gab. Einer der beiden war einfach besser.

Gegen Vier hatte ich genug, es sollte noch ein langer Tag werden, denn erst jetzt, fast gegen acht, habe ich alles erledigt, was ich noch erledigen wollte.
Was immer ich noch nicht gesehen habe, schaue ich mir morgen an. Eines kann ich aber jetzt schon sagen, Sarajevo gefällt mir. Auch hier sind die Leute entspannt, sitzen gerne im Café, schauen sich die Welt an, wie sie an ihnen vorüberzieht. Es ist eine der sympathischsten Zeitvertreibe, die ich kenne, den ich noch lernen muss. Denn meist komme ich vor lauter Schreiben nicht dazu. Da ich aber die Stadt heute schon einigermaßen ausführlich gesehen habe, werde ich morgen sicher die erste Lektion im Seelebaumeln lassen angehen. Zeit wird es.