Weihnachten im Camper
Auch heute war ein Tag der Stille. Nachts begann es, gewaltig zu regnen. Es trommelte schon nicht mehr, sondern hämmerte ein einem fort. Zusammen mit meinen Zahnschmerzen, die ich auf dieser Reise alleine nicht in den Griff bekommen werde, kam ich so um etliche Stunden Schlaf, eine Tatsache, die mich morgens beim Aufstehen recht mürrisch stimmte. Doch das Wetter zumindest schien sich etwas zu bessern, zwar war von der Sonne nicht viel zu sehen, aber ab und an beobachtete ich einen blauen Streifen, der sich in einem Meer von Grau durchsetzen konnte. Ich machte mich langsam fertig, las wieder viel und wollte um zehn abfahren. Dann begann es erneut….
Der Regenguss war kein kleiner, unablässig stürmte es, während dicke Tropfen gegen die Scheiben schlugen. Das nasse Wetter hat sofort Einfluss auf die Temperaturen, die absackten. Ich war froh, meinen Heizlüfter zu haben und dachte mir, dass es Schlimmeres gäbe, z.B. bei diesem Wetter durch eine sizilianische Stadt stapfen zu müssen. Diesem Schicksal war ich also entkommen, doch bedeutete es, einen weiteren Tag „zu Hause“ im Camper verbringen zu müssen. Normalerweise hätte es mich gestört, aber Weihnachtstage haben so etwas an sich, etwas ruhiges, das ich sonst als Anflug von Faulheit bezeichnen würde. Doch in dieser Zeit ist es völlig in Ordnung, etwas faul zu sein. Wie übrigens in der ganzen Spanne zwischen Weihnachten und Neujahr. Ich glaube, es ist im Allgemeinen die unproduktivste Spanne im Jahr in Europa. Zumindest bei mir. Niemand tut etwas, und die, die etwas tun müssen, machen es unwillig und wesentlich langsamer als normal. Also noch langsamer, will heißen, beinahe gar nicht. Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel, nur falls sich jemand angesprochen fühlt.
Ich las also weiter, beendete den zweiten Roman des Berliner Detektivs/Kommissars Bernhard Gunther. Die Geschichten spielen in der Nazizeit. Es ist alles nichts Neues, seit mindestens der ersten Klasse arbeiten wir diese unrühmlichste aller Epochen auf, aber dennoch schockiert es mich immer wieder. Die Geschichten zu lesen, über Ereignisse, die so grauenhaft sind, dass man nicht denken würde, dass sie je geschehen konnten. Aber sie sind geschehen. So und noch viel schlimmer, was ich mir kaum vorstellen kann, weil mir zum Glück die Erfahrung fehlt. Wie um alles in der Welt die anderen Nationen, allen voran die jüdische, uns jemals erlauben konnten, weiter zu existieren, wird eines der großen Rätsel bleiben. Ich wäre nicht so zimperlich mit dem Deutschland dieser Zeit gewesen. Was mich allerdings schockiert, ist die Tatsache, dass wirtschaftliche und militärische Interessen dazu geführt haben, dass diese Nation heute zu den reichsten überhaupt gehört. Wie grotesk muss es einem Polen vorkommen, einem Tschechen, einem Russen, die zu denjenigen gehört haben, die am meisten unter dem deutschen Volk gelitten haben, nun die wohlhabenden deutschen Schnösel mit ihren nagelneuen Karossen über die offenen Grenze fahren zu sehen? Aber vielleicht ist das Gedächtnis für so etwas nicht geschaffen oder die Fähigkeit zu verzeihen bei meinen Mit-Europäern wesentlich ausgeprägter als bei mir.
Das Schlimmste aber ist, dass ich denke, dass Verbrechen der Nazizeit jederzeit wieder möglich sind. Der Mensch ist, wie er ist, ein brutales Raubtier, das sich nur in guten Zeiten einen Anschein von Kultur erlaubt. Es ist ihm nicht zu trauen, vor allem dann nicht, wenn persönliche Interessen auf Kosten anderer befriedigt werden können. Besonders während der Lektüre habe ich mich gefragt, ob ich dem widerstanden hätte. Meine Antwort jetzt: wahrscheinlich nicht. Das ist es, was mich so wütend macht. Ich wäre feige gewesen, hätte vielleicht sogar mitgemacht, wenn nicht aktiv, so doch passiv. In meinem Leben gibt es genügend Beweise dafür, dass ich nicht den Schneid habe, Brutalos die Stirn zu bieten. Sicher, diese treten heute anders auf, haben Anzüge an und fahren teure Autos. Doch primitiv sind sie noch. Und besonders diese scheinen es auch zu sein, die sich noch immer in unserer Gesellschaft durchsetzen.
Wie gerne würde ich sehen, dass es die von Platon beschriebenen Philosophen wären, die unsere Geschicke lenken. Auch wenn nicht alles funktionieren kann, hätten solche Menschen wenigstens den moralischen Anspruch, Gutes zu tun. Ein Grundsatz also, den man niemals hoch genug bewerten kann. Aber ich denke, davon sind wir noch sehr weit entfernt. Die Evolution muss uns noch näher an das heranbringen, was ich als Göttlichkeit in uns bezeichnen werde. Im Augenblick sind wir den Tieren wesentlich näher als den „Überwesen“, zu denen wir eigentlich aufgrund unserer Intelligenz gehören könnten. Ich werde es nicht erleben und auch nicht die nächste oder übernächste Generation. Wenn wir uns nicht vorher unserer Lebensgrundlage berauben, werden einige Jahrmillionen ins Land gehen, dann begreifen wir vielleicht langsam, dass das Werkzeug, nämlich unser Gehirn, zu mehr in der Lage ist, als nur reinen Profit zu erwirtschaften. Wir sind in der Lage, zwischen gut und böse zu unterscheiden, das kann sonst kein Lebewesen. Warum also tun wir es nicht oder besser, warum tun es die, die uns regieren – wirtschaftlich und politisch nicht? Sicher verdienen wir es nicht besser. Ich auch nicht, der immer davor zurückgeschreckt ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn es wirklich darauf ankam. Ich werde viel über Mut, über das Gute an sich und über mein eigenes Schicksal nachzudenken haben. Ich werde es tun.
Wozu ein Regentag wirklich gut sein kann.