Girona

Schlecht gelaunt wachte ich heute auf, den Grund dafür konnte ich lange nicht eindeutig bestimmen. Nach 4 Nächten verließ ich den Campingplatz Tres Estellas, war im Grunde auch froh darüber, denn beinahe zu jeder Tageszeit stank es hier nach faulen Eiern. So manchen Morgen war ich in die Stadt geflüchtet, nur um diesem Geruch zu entgehen. Das war schlimmer als der Fluglärm, den ich kaum wahrgenommen hatte.

Meine Route führte mich direkt nach Barcelona hinein, ich sah den Montjuic Park, das olympische Dorf und – was noch beeindruckender war – den riesigen Friedhof, der sich an den Berg schmiegt. Auch hier spielt eine Szene aus dem Buch – ich verspreche jetzt, es nicht mehr zu erwähnen, denn es ist genug, selbst für mich. Unter der Rambla führt ein Tunnel hindurch, so dass ich wenigstens nochmals an Barcelona vorbei fahren durfte. Jetzt wusste ich auch, warum ich solch schlechte Laune hatte. Ich vermisste diese Stadt schon jetzt. Keine Ahnung warum, mein ganzes Leben habe ich ohne auch nur ein Hauch an Bedauern gelebt, zumindest meistens. Ausgerechnet hier klappte das nicht. Die Anziehungskraft dieses Ortes ist enorm, stärker als alles andere, das ich bislang auf dieser Reise gesehen habe. Mein Weg wird mich eines Tages herführen, das ahne ich, und mir einen längeren Aufenthalt gestatten, um die Geheimnisse der alten Dame etwas näher kennenzulernen.
Meine Fahrt zog sich hin, über Landstraßen und kleine Städte erreichte ich den Vorort von Girona, in dem der Campingplatz sein sollte. Er war auch da, als ich jedoch in die Auffahrt einfahren wollte, sah ich nur ein desolates Stück Erde, völlig überwuchert und abgesperrt. Ein kleines Schild zeigte: Open June 16th. Das war also der ganzjährig geöffnete Campingplatz. Danke Rough Guide, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Ausgabe von 2007 ist. Ich hätte eigentlich hellhörig werden müssen, denn selbst im ADAC-Campingführer ist der Platz nicht vermerkt. Also musste ich meine Strategie ändern, ein Aufenthalt kam hier nicht in Frage. Ich ließ es erst einmal dabei, fuhr in die Stadt, suchte eine Weile einen Parkplatz, der mir sicher erschien und machte mich dann auf den Weg zur Besichtigung.

Girona gefiel mir auf Anhieb, vielleicht auch, weil es so schön klein ist und somit einen mikroskopischen Gegensatz zu Barcelona bildet. Ich lief zur Kathedrale, um von dort durch die enge Hauptgasse zu wandern. Die meisten Häuser, die ich sah, waren viele Hundert Jahre alt, aus schweren Steinen gebaut, die mit einer Menge Patina bedeckt sind. Durch die Stadt fließt der Fluss Onyer, der von vielen Brücken überquert werden kann. Von hier konnte ich die Stadt noch besser betrachten, sie hat definitiv südländisches Flair. Die Häuser sind größtenteils in Erdfarben gestrichen, so wie man es aus Florenz oder anderen toskanischen Städten kennt. Ein wirklich malerisches Bild, das ich so nicht erwartet hatte.
Irgendwann stand ich auf der Rambla, die direkt am Fluss entlang führt. Die Geschäfte sind exklusiv, viele Boutiquen zeigten mir, dass es mit dem Reichtum der Bürger oder der Besucher ziemlich weit sein musste, für keine war meine Tasche tief genug. Einen Kaffee konnte ich mir jedoch leisten, den genoss ich auf einem mittelalterlichen Platz. Von hier konnte ich die Schwalben beobachten, die immer ein untrügliches Zeichen für das Wetter am nächsten Tag sind. Aber auch sie konnten sich nicht recht entscheiden, einige flogen sehr tief, andere wiederum waren kaum zu erkennen, so weit oben befanden sie sich. Typisch, es ist ein wenig sinnbildlich für diese Reise, nichts ist vorhersehbar, noch nicht einmal auf die Vögel ist Verlass. Zudem hatte ich enorme Probleme mit meiner EC-Karte, die sich weigerte, mir zu Bargeld zu verhelfen. Ich musste auf meine zweite zurückgreifen, die von einem anderen Konto gedeckt ist, dass ich mit Nina gemeinsam habe. Also ein Notfall, denn die erste Sicherung das Geld betreffend war ausgefallen. Zum Glück meldete Äidsch Kiu in Form von Nina per SMS, dass mit dem Konto alles in Ordnung und die Karte wahrscheinlich defekt ist. Sie bringt mir eine Neue mit, wenn sie in kaum mehr 10 Tagen nach Nizza kommt. Für Reisende ist das eine wichtige Angelegenheit, denn in Notfällen sind die meisten Probleme mit Geld zu lösen, ohne steht man meist ziemlich dumm da. Ich habe mich diesbezüglich abgesichert, neben den EC-Karten auch noch eine Kreditkarte und eine Notreserve Bargeld dabei, die beachtlich ist, mich viele Tage durchbringen könnte. Doch die rühre ich nur in einem echten Notfall an.

In Girona machte ich mich auf den Weg zur alten Stadtmauer, die auf römischen Fundamenten steht. Der Ausblick auf die Stadt von dort oben ist relativ gut, auch wenn er mich nicht all zu sehr beeindruckte. Vielleicht ist das Panorama auch nicht so fantastisch. Also lief ich weiter, umrundete die Altstadt auf diesem Weg.
Es ist immer irgendwann Zeit, etwas Bestimmtes zu sehen. Heute war es Zeit für jüdische Kultur. Hier, in Girona, hat es bis 1492 eine lebendige und große jüdische Gemeinde gegeben, die wie so oft in einem Getto leben musste. Ein jüdisches Museum erinnert an diese Zeit, es ist an dem Ort der ehemaligen Synagoge untergebracht. Ich habe die kleine Ausstellung gesehen, sie erzählt das Leben der Gemeinde, das so abrupt mit der Abschiebung endete. Besonders die vielen Grabsteine aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind bemerkenswert. Was natürlich am meisten zählt, sind die Erzählungen. Es macht mich so nachdenklich, denn hier lebten viele Jahrhunderte lang zwei Religionsgruppen direkt nebeneinander. Das taten sie, ohne jemals zu einer Einheit zu werden, wer auch immer dafür die Verantwortung trägt. Das scheint in der Natur des Menschen zu liegen, ich habe es selbst erlebt, als ich im „Ausland“ gelebt habe. Gruppen von Mitbürgern bildeten sich – das spanische Grüppchen, das italienische, das deutsche – kaum jedoch gab es engeren Kontakt zwischen ihnen. Warum müssen wir immer etwas suchen, dass wir kennen, warum schaffen wir es nicht, uns für das Neue zu öffnen? Ich schließe mich davon nicht aus, auch ich habe solcherlei Tendenzen, auch wenn ich mich dagegen wehre.
Hier in Girona jedenfalls führte das dazu, dass per Dekret die jüdische Bevölkerung entweder zu konvertieren hatte oder die Stadt verlassen musste. Das geschah vor mehr als 500 Jahren, eine Katastrophe für die Stadt, denn ein großer Teil der Identität ging für immer verloren. Mehr noch als die Christen waren die Juden in den Wissenschaften zu Hause, Leistungen und Erkenntnisse gingen durch deren Weggang verloren. Einmal mehr war die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, hier einer religiösen, wichtiger als die Ratio, ein Umstand, den ich niemals verstehen werde.

Nach etlichen Stunden der Besichtigung und des Nachdenkens über die Erkenntnisse daraus, machte ich mich auf den Weg in die Berge. Bei Montagut gab es einen Campingplatz, der nach den turbulenten Tagen Barcelonas Ruhe verspricht, vielleicht schaffe ich es hier, mein angeknackstes Eigenimage des fleißigen Schriftstellers wieder ins rechte Licht zurücken und meine Story voranzutreiben, die in den letzten Tagen weniger Fortschritte gemacht hat als geplant. Trotz allem glaube ich, dass es gut so war, denn ich habe viel gesehen und erlebt.
Doch der Schlendrian muss nun ein Ende haben.