Nizza & Frejus

Es war eine unruhige Nacht, vielleicht weil ich unterbewusst jede Minute das Klingeln des Weckers erwartete, eine Erfahrung, die bei mir bereits in das Reich der Legenden zurückreicht. Am Ende wachte ich lange vorher auf, räumte den Camper wieder ein wenig auf – es ist ein Ding der Unmöglichkeit, ihn ordentlich zu halten, zumindest für mich – und machte mich kurz nach acht Uhr auf den Weg. Keine Minute zu früh, denn die Fahrt, die mich erwartete, stellte mich und das Vehikel auf harte Proben. Aber was war es für eine Strecke, ich möchte sie um jede Anstrengung der Welt nicht missen. Bereits zu Beginn fuhr ich an kilometerlangen Lavendelfeldern vorbei, die leider noch nicht blühten. Das echte Spektakel begann bei Moustiers-Ste Marie, ein am Berg klebender Ort, der von Weitem bereits den ganzen Charme der Gegend widerspiegelt. Mittelalterliche, rustikale Häuser – ich bereute fast, am gestrigen Tag nicht zumindest die 15 Kilometer hierher gefahren zu sein. Bereits für diese hatte ich mindestens eine halbe Stunde gebraucht, teilweise musste ich im Schritttempo Kurven hinunter, die enger niemals hätten konzipiert werden können. Doch das war erst der Anfang. Hier begann der schönste Teil der Strecke, sicher auch der anstrengendste. Wieder serpentinte ich mich die Hügel hoch, teilweise im ersten Gang, weil die Transe mit Steilhängen nur in ihrem eigenen Tempo zurechtkommt. Es waren atemberaubende Bilder, die ich als Belohnung erhaschen durfte. Tief unter mir, mehrere Hundert Meter floss die Verdon entlang, die Berge streckten sich darüber in die Höhe, teilweise wunderbar bewaldet. Dicke und schwere Wolken hingen an den Hängen, die der Atmosphäre etwas einmalig Gespenstisches gaben. Es sah unwirklich aus, wie im Regenwald und ich konnte nicht anders als beinahe atemlos zusehen. Welche Schönheit, hier, mitten in Europa. Während so viele Menschen weit, weit wegfahren, vergessen sie, vor der Tür zu schauen. Die Gegend scheint mir vom Tourismus relativ verschont, nur wenige Besucher fühlten jedoch dasselbe wie ich. Wir staunten sozusagen zusammen, einfach wundervoll.

Ich hätte noch an vielen anderen Orten anhalten können, ganz so spektakulär war es zwar nicht mehr, aber immer noch schön genug. Allerdings machte die Transe die Geschwindigkeit betreffend einer Schnecke gehörig Konkurrenz. Ich kam kaum voran, so dass für längere Aufenthalte keine Zeit blieb. Auch musste ich mich gehörig konzentrieren, denn die Kurven und Anstiege waren mörderisch. Ich kam danach vor allem durch malerische Dörfer und es scheint mir nur natürlich, dass ich dieser viel zu schnell vorbei ziehenden Schönheit bereits nachtrauerte, während ich sie sah. Ich kann jedem nur empfehlen, sich hier so viel Zeit wie möglich zu nehmen, die Bilder, die sich laufend ändern, aufzusaugen und zu genießen. Mir war das heute nicht möglich, aber vielleicht kann ich Nina überreden, hier einige Tage mit mir zu verbringen. Vielleicht auf dem Rückweg, wenn sich ihre Kräfte, die sich in ihrem aufreibenden Job ziemlich aufgebraucht haben, wieder etwas erholt haben, denn ohne Wandern kommen wir hier nicht zurecht. Herrlich auch die Anfahrt auf Castellane, wo gerade der Wochenmarkt stattfand. Mir blutete das Herz, dass ich nicht einfach angehalten und ihn mir angeschaut habe. Über dem Ort thront ein Felsen mit einer Statue drauf. Sie zieht den Blick bereits von der Ferne auf sich und gibt dem Dorf etwas Zauberhaftes, das man eigentlich erkunden möchte. Es half nichts, ich musste weiter…..

Letztlich kam ich erst gegen Eins in Nizza an, für 150 Kilometer hatte ich fast fünf Stunden gebraucht. Garmin hatte am Anfang der Tour sage und schreibe 2,5 Stunden kalkuliert, aber bereits während der Fahrt laufend korrigiert. Zum Glück habe ich ihr nicht geglaubt und meine eigenen Erfahrungen zugrunde gelegt, was mir den Tag gerettet hat. Denn rechtzeitig sitze ich jetzt in Nizza auf dem Flughafen. Nina kommt in einer halben Stunde an, ich freue mich darauf.
Im Hintergrund läuft irgendein WM-Spiel, das meine Aufmerksamkeit in keinster Weise stört, denn es ist stinklangweilig. Ich habe gestern übrigens bei einem Gas Wein noch das erste Spiel der Franzosen gesehen. Das war genauso ereignislos, es macht aber viel mehr Spaß, die Leute bei ihrer Leidenschaft zu beobachten. Es ist eigentlich wirklich faszinierend, mit welcher Inbrunst sie dieses Ereignis verfolgen können. Ich bewundere das, der immer sehr kontrolliert ist, und – was ich zugeben muss – nicht in der Lage bin, bei einem Sportereignis echte Freude zu empfinden. Vielleicht kann ich es im Allgemeinen nicht, die Unzufriedenheit selbst bei großen Erfolgen folgt mir, immer wieder ein Ansporn, es noch besser zu machen. Schade eigentlich, denn in diesem Moment habe ich das Gefühl, gerade aus dem Grund emotional nur halb zu existieren. Selbst das Fertigstellen einer Geschichte, an der ich Monate geschrieben, für die ich gelitten und geschmachtet habe, löst in mir kaum eine Reaktion aus. Meist mache ich mich bereits am nächsten Tag an die nächste, halte nicht inne, um zu genießen. Merkwürdig auch, dass es mir erst jetzt, heute, auffällt. Vielleicht liegt es an dem Buch, das ich gerade lese. Es handelt von einem Komponisten, der – sagen wir –
von der Öffentlichkeit ignoriert wird, seinen Erfolg aber nur davon abhängig macht. Ich lese es mit großem Interesse, denn einen Teil des Charakters habe auch ich in mir. Es liegt an mir, mich nicht durch den Misserfolg selbst zu bestimmen, sondern durch das, was ich leiste. Öffentliche Meinungen ändern sich, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Man stelle sich vor, was van Gogh getan hätte, wenn er die Verkäufe seiner Bilder zur Bedingung seiner Kunst gemacht hätte. Er hätte aufhören müssen zu malen.
So, jetzt ist keine Zeit mehr, Nina kommt gleich an.