Cervarezza

Dieser Sonntag wurde zu einem unfreiwilligen Ruhetag. Auf der ganzen Fahrt plage ich mich schon mit Rückenschmerzen herum, die heute Nacht ihren Höhepunkt fanden. Sie waren am Ende so stark, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Die Auswirkungen waren dementsprechend haarsträubend, einen Tag in irgendeiner Firma, in der mehr als Anwesenheit meist nicht notwendig ist, hätte ich noch überstanden, aber unter diesen Umständen ein kreatives Tagewerk zu vollbringen, dessen sah ich mich außerstande. Ich probierte es, stand eine Schreibsession durch, doch denke ich, dass ich alles, was ich auf den Bildschirm gebracht habe, sicher nochmals komplett überarbeiten, wenn nicht gar neu schreiben muss. Da mir selbst das Atmen schwerfiel, brauche ich mich nicht wundern, dass mir die einfachsten Worte nicht einfielen.

Ich bin selbst schuld. Als Lebenskünstler, für den ich mich halte, suche ich ungewöhnliche Lösungen, die vor allem nicht viel kosten. So habe ich den Ausbau des Campers betrieben, der mir auch meiner Meinung nach gut gelungen ist. Als es um die Matratze ging, fand ich bei einem schwedischen Möbelgeschäft mit vier Buchstaben günstig Schaumstoffmatrazen… für Babys. Da diese damals sehr, sehr stark herabgesetzt waren, kaufte ich genug und um ein höheres Maß an Bequemlichkeit zu erlangen, legte ich zwei übereinander. Bei meinen bisherigen Kurzurlauben ging auch alles gut, aber für eine solche Aktion wie dies Reise reichen diese Dinger einfach nicht aus. Hier hat mein Geiz und meine Motivation, mich nicht durch die Konsumgesellschaft überraschen zu lassen, zu den starken Schmerzen geführt. Der Tag war somit erledigt, ich konnte kaum sitzen und da ich mir eine Schmerztablette gönnte, war es mit meiner Konzentrationsfähigkeit nicht weit her. Immerhin konnte ich ein leichtes Buch lesen, das mich zumindest für zwei Stunden beschäftigte. Es ging um eine Belgierin, die sich in einem japanischen Unternehmen bis auf die Knochen demütigen lässt, alles aber mit einem gewissen Humor erträgt. Dabei weigert sie sich zu kündigen, weil sie lieber diese Demütigung erträgt als durch ihre Aufgabe ihr Gesicht zu verlieren. Das ist eine Denkweise, die ich persönlich nicht verstehe. Sie wird in Bereichen eingesetzt, in die sie nicht hineingehört, nur, um ihr ihre Grenzen zu zeigen. Das, was sie gut kann, darf sie nicht machen. Am Ende wird sie nur noch für das Säubern der WCs eingesetzt, selbst der Präsident der Firma missbilligt das, als er es merkt, kann aber die Entscheidung der Führungskraft der Protagonistin nicht anzweifeln, da auch er dann sein Gesicht verlieren würde. Wenn diese Geschichte stimmt und es in japanischen Firmen so zugeht, frage ich mich, warum diese Gesellschaft so erfolgreich ist, denn eigentlich ist es nur der Versuch, Talente klein zu halten.

Ich selbst habe mich vor gut einem Jahr dazu entschieden, aus meinem Vertrag bei einer Premium-Automarke vorzeitig auszusteigen, weil mir im Grunde Ähnliches geschehen ist, zwar auf einem anderen Level, auch musste ich keine Wcs putzen, doch meine Talente wurden genau so klein gehalten, wie auch diejenigen meiner Mitarbeiter. Also ist es hier auch nicht besser. Als Gesichtsverlust habe ich meine Kündigung nicht gesehen, im Gegenteil. Wenn es nicht passt, die Lebensphilosophien von Firma und Individuum nicht zueinanderpassen, muss man sich trennen. Punkt.

Ich kann all das in Ruhe schreiben, weil dieser Tag ohnehin nicht zu den aktiven zählen kann. Zu den Rückenschmerzen kommt jetzt auch noch ein Gewitter, es gießt, so dass meine Wanderung nun wirklich ins Wasser fällt. Morgen ist aber auch noch ein Tag.
Das deutsche Team hat übrigens gestern gewonnen, sehr zum Ärger der 50 Italiener in der Bar, in der ich das Spiel sah. Ich habe trotzdem gejubelt, komischerweise immer auf Englisch (Yeeeees!!!), die Italiener waren wenigstens so fair, mich nicht grün und blau zu schlagen.
Ich weiß nicht, was es ist, aber bei sämtlichen Spielen, bei denen die deutsche Mannschaft spielt, werden wildfremde plötzlich zu Fans des jeweils anderen Teams. Franzosen und Niederländer werden plötzlich zu England-Fans, ebenfalls Franzosen drückten danach den Argentiniern die Daumen, Italiener unterstützen Spanien und gestern eben Uruguay. Sind wir in dieser Welt so unbeliebt? Wenn ja, warum? Ich empfinde das als schade, denn mir würde es nicht einfallen, einfach mal so gegen eine ganze Volksgruppe zu sein. Heute Abend im Finale spielt Holland gegen Spanien. Ich entscheide mich nicht, für wen ich sein möchte. Muss ich auch nicht, der Beste soll gewinnen.

Ich las heute auf der Seite der BBC einen Kommentar, dessen Verfasser es nicht verstand, warum die Deutschen einen dritten Platz bei der WM überhaupt feiern können. Es wunderte mich nicht. Darin liegt leider die Erfolgslosigkeit der Engländer begründet, denn alles außer dem ersten Platz zählt nicht. Dass diese Art der Erwartung Menschen eher lähmt als beflügelt, sieht man am Abschneiden des Teams. Es ist letztlich im Leben nicht anders. Wenn man auf den Gipfel will, ohne vorher klettern gelernt zu haben, braucht man sich nicht wundern, wenn man es nicht einmal ins erste Basecamp schafft. Oder bereits an einer einfachen Steilwand scheitert. So lange Menschen nicht lernen, dass zum Erfolg eine Entwicklung und sehr harte Arbeit gehört, werden sie immer wieder scheitern. Weil wir das inzwischen wissen, feiern wir. Ob die anderen das verstehen oder nicht, spielt keine Rolle.
Eine Korrektur zu meinen gestrigen Ausführungen muss ich noch machen. Diese Gegend, in der ich mich aufhalte, ist doch im Rough Guide zu finden. Es ist nicht einmal eine Seite, daher habe ich sie überblättert. Sie wird als herrliches Wanderparadies beschrieben. Auch die Fahrt über den Pass findet Erwähnung, der Verfasser vergleicht sie mit „Schildkröten-Tempo“. Also war meine Erfahrung richtig. Was noch folgt, ist mein „Abstieg“, vielleicht am Dienstag. Der soll auch nicht ohne sein. Wir werden sehen….