Athen
Ein typischer Großstadttag, erschöpfend, aber verheißungsvoll. Heute war es wieder heißer als sonst, die Tage, an denen die Temperaturen sich eher um die 25 Grad bewegten, sind wieder vorüber, jetzt bewegen wir uns wieder jenseits der 30-Grad-Marke. So kann auch ein schöner Herbst aussehen.
Ich hatte heute nur ein Ziel, das archäologische Museum, das auch etwas abseits liegt. Vielleicht um der Konkurrenz durch die Ausgrabungsstätten zu umgehen. Ich hatte bereits vorab einiges gelesen, doch meine Erwartungen wurden noch bei Weitem übertroffen. Die Eintrittskarte leistete ich mir gerne, immerhin kostet ein Besuch im Berliner Pergamon-Museum mehr und das archäologische Museum Athens ist hier mehrere Nasenlängen voraus, auch schon bei der Darstellung der Gegenstände. Ich begann mit der Betrachtung der Skulpturen, denen ich diesen Besuch mehr oder weniger widmete. Ich habe noch nie so eine vollständige Sammlung antiker Statuen gesehen, anhand derer man die Entwicklung dieser Kunst nachvollziehen kann, die schon seit mehr als 2500 Jahren unsere Bildhauerkunst so beeinflusst und dominiert.
Aber auch für die Griechen kam nichts selbstverständlich, der Weg bis zur Vollendung war zwar verhältnismäßig kurz, doch immer noch mehrere Hundert Jahre lang. Nach dem Zerfall der mykenischen Kultur dauerte es lange, bis sich die Bildhauerei wieder entwickelte. Zaghafte Versuche im siebenten Jahrhundert erinnern stark an ägyptische Statuen, steife Beine und Körper, ein Fuß immer weiter vorne. Doch schon bald beginnen die Künstler, mutiger zu werden, ich sah Anfänge von herausgearbeiteten Muskeln, angedeutete Bauchmuskulatur und natürlich das archaische Lächeln, das ich immer schon recht beknackt fand. Dann kommt Bewegung ins Spiel, die Figuren, vor allem die männlichen, werden realistischer, der griechische Idealkörper entsteht. Selbst ältere Männer, so zum Beispiel der bronzene Zeus, einer der wichtigsten antiken Funde, hat zwar ein altes Gesicht, doch den Körper eines 25-jährigen Athleten. Es war einfach fantastisch, das alles zu verfolgen. Mit eigenen Augen zu sehen und zu verstehen, wie sich diese Kunstrichtung entwickelt und wie sie zu dem wurde, was sie auch heute noch ist: Schönheitsideal für Jahrtausende. Selbst heute noch. Die Damen der Schöpfung dagegen kommen wesentlich sittlicher weg, damit bleiben sie leider auch im Schatten der männlichen Darstellungen. Während Jünglinge – Kouroi – immer nackt gezeigt wurden, waren die Koren immer bekleidet, zumindest im klassischen Zeitalter. Erst später, im Hellenismus, zeigen sie mehr Haut, holen aber nicht wirklich auf. Was ich vermisste, war übrigens ein echtes Glanzstück der Klassik, so etwas wie den Hermes des Praxiteles in Olympia. Hier im Museum stehen nur Kopien aus römischer Zeit, manche recht gut, viele aber krude und nicht einmal annähernd so charismatisch, wie die Originale sicher einmal waren. Das liegt vor allem daran, dass kaum ein Original erhalten ist. Der bronzene Zeus ist die einzige glorreiche Ausnahme, ansonsten sind zumindest Bruchstücke erhalten, Torsi, die zumindest andeuten, um welche Kunstwerke es sich einst gehandelt hat. Wenigstens haben wir Kopien.
Auch ausgestellt sind viele Grabstelen, die allein für sich ein Thema wären. Mit denen aber kannte ich mich nicht so gut aus, daher bewunderte ich einfach nur einige von ihnen. Selbst zu antiken Zeiten müssen einige sehr berühmt gewesen sein, denn sie werden von römischen Schriftstellern erwähnt.
Ich hatte zu dieser Zeit kaum die Hälfte der Skulpturensammlung hinter mir und zeigte schon gewaltige Ermüdungserscheinungen. Trotzdem hielt ich durch. In der hellenistischen Kunst werden die Darstellungen noch realistischer, die Züge der Menschen werden nicht mehr so stark idealisiert, sie haben Falten. Dann gibt es einen Bruch. Die Römer kopierten zwar fleißig, erschufen aber wenig Eigenes, das heißt, sie entwickelten auch nicht besonders viel. Die kolossalen Kaiserstatuen haben für mich etwas sehr Starres, nicht mehr die Leichtigkeit, die die klassischen Werke ausstrahlten. Ein Werk allerdings hatte es mir angetan, eine schlafende Frau, auf Kissen gebettet. Eine sehr erotische Skulptur, sehr realistisch, die Rundungen sanft, das Gesicht fein und ebenmäßig. Doch konnte ich nicht umhin zu merken, dass der Zenit überschritten war. Doch was macht das schon? In so kurzer Zeit haben die Griechen alles erreicht, was man erreichen konnte. Nicht nur in der Bildhauerei, auch in der Schriftstellerei, der Philosophie oder der Vasenkunst, vom Staatswesen ganz zu schweigen. Hier im Museum leuchtet dieser Stern so hell, dass er alles andere überstrahlt und ich habe mich wohlgemerkt nur auf eine Richtung konzentriert. Wie haben sie das geschafft, was war die Voraussetzung für diese Meisterleistungen? Ich glaube, dass es die Freiheit ist, die solche Leistungen ermöglichen. Wenn wir die Zeit und die Gelegenheit haben, unseren Geist in verschiedene Richtungen zu schicken, wenn wir ihn an anderen testen können, die nicht sofort alles ablehnen, was man sagt, wenn es die Kleinkrämerseelen sind, die verlacht werden und diese es eben nicht sind, die lachen, so wie heute, dann ist so etwas möglich. Es war ein kurzes Experiment, das nur wenige hundert Jahre dauerte. Aber was für ein Experiment. Den Erfolg bewundern wir noch heute.
Nach der Skulpturensammlung schaute ich mir noch die Ausstellung zur pre-klassischen Zeit an und siehe da, ich traf alte Bekannte. Hier sah ich die Funde aus Epidauros, aus Mykene, aus Tiryns, sogar Olympia, Schätze häuften sich, Geschmeide, Totenmasken, wertvoller Schwerter. Ich dachte zurück an die faden Museen in Epidauros und Mykene, die ihrer Schätze beraubt sind. Und um ehrlich zu sein, musste ich etwas lächeln, denn die Athener fordern mit Vehemenz die Herausgabe der Akropolis-Friese. Dann sollen sie aber auch die Funde aus allen Teilen Griechenlands an die entsprechenden Fundorte zurückgeben, denn im Grunde ist es das gleiche. Agamemnon würde sich auch im Grabe umdrehen, würde er wissen, dass seine Totenmaske in Athen, also der damaligen Provinz, ausgestellt ist.
Jetzt kroch ich schon fast auf dem Zahnfleisch, doch so vieles hatte ich noch nicht gesehen. Eine winzige Ausstellung jedoch weckte mein Interesse. Zu Zeiten des Peloponnesischen Krieges fing sich Athen eine Plage ein, hatte also nicht nur mit den Spartanern zu kämpfen, sondern auch mit der Tatsache, dass plötzlich ein Drittel der Bevölkerung fehlte. Hastig wurden die Toten – ganz gegen den Brauch – damals in Massengräbern verscharrt. Ein Totenschädel eines 11-jährigen Mädchens ist fast perfekt erhalten geblieben und die Griechen haben dafür gesorgt, dass es wieder ein Gesicht bekommen hat. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man ins Antlitz von jemandem schaut, der schon vor 2500 Jahren verstorben ist. Diese kleine Ausstellung ist ein Mahnmal. Denn auch wenn es damals keine Heilung für das Mädchen gab, heute gäbe es sie. Trotzdem sterben noch besonders viele Kinder in Afrika an Typhus, der letztendlichen Todesursache. Heute jedoch gibt es keine Entschuldigung mehr für den sinnlosen Tod von Kindern, heute könnten wir diese Krankheiten leicht besiegen. Wann verstehen wir das endlich oder besser: Wann fangen wir damit an? Die Dritte Welt wartet darauf.
Gegen jede Vernunft sah ich mir noch die Vasen an, auch hier kann man die Entwicklung perfekt verfolgen, alles ist chronologisch und sehr gut erklärt. Aber ich konnte nicht mehr. Um kurz nach zehn hatte ich das Museum betreten, jetzt war es 15 Uhr. Museumskoller. Mein gebratenes Gehirn hat sich noch nicht erholt. Wie betrunken machte ich mich auf den Heimweg. Es war ein fantastischer Tag in einem einzigartigen Museum, das Stoff für viele Tage bietet.
Die griechische Kultur wird mich noch lange begleiten, denn in Kleinasien, der heutigen Türkei, haben sie eine ganze Reihe von Städten gegründet. Sehr schön, somit muss ich diesmal keinen Abschied feiern.
Auch wenn ich heute nicht am Roman geschrieben habe, werde ich mich in den nächsten Tagen nach einem Ort umschauen, an dem ich in Ruhe arbeiten kann. Den werde ich weit im Norden suchen.