Polyrrhenia

Ich bin doch nicht abgefahren.
Gestern habe ich den Wetterbericht gelesen, und zwar von Paleochora. Demnach soll es dort noch windiger sein als in Kissamos.
Ich dachte mir abends dann, dass nichts gewonnen wäre. Und außerdem gibt es hier in Kissamos sicher einiges, dass ich noch unternehmen konnte.
Morgens war ich mir nicht sicher, ich hätte noch immer abfahren können, aber dann war es mir doch zu viel. Ich war auch erst ziemlich spät aufgewacht, hatte offensichtlich etwas Schlaf nachholen müssen. Die Nächte sind unruhig, das steht fest. Dank des Windes und der Tatsache, dass das Meer nur 20 Meter vom Zelt entfernt donnert. Auch jetzt, da ich das alles schreibe.
Aber ich machte mir nichts aus dieser Kleinigkeit, sondern entschied ziemlich rasch, dass ich bleiben wollte. Zumindest noch diesen einen Tag.
Eine kurze, aber intensive Yogaroutine brachte mich ein wenig in Schwung. Und dann war ich auch schon bereit für den Tag. Ich hatte mir eine antike Stätte ausgesucht, Polyrrenia, die ca. 12 Kilometer entfernt liegt. Ich wusste, dass es eine anstrengende Fahrt werden würde, das Navi sagte ca. 450 Höhenmeter voraus. Und das auch nur auf den letzten sechs Kilometern.
Es war dann gar nicht so schlimm. Vielleicht weil ich schon wusste, was auf mich zukam. Und weil ich ebenfalls wusste und bereit war, das Fahrrad ein paar Kilometer zu schieben. Außerdem bin ich fitter als noch vor einer Woche. Ich komme mit leichten Steigungen nun problemlos zurecht. Stärkere dagegen probiere ich gar nicht erst, sondern steige gleich ab. Das ist besser so. Sonst bin ich zu schnell kraftlos.
Zuerst aber spielte mir das Navi einen Streich. Es schickte mich auf eine Sandstrecke hinauf. Und das war zusätzlich schwer- Nebenan verlief irgendwo die wenig befahrene Straße. Aber ich musste den ersten Kilometer auf diesem steinigen, sandigen, löchrigen Weg verbringen. Ich traf sogar ein paar Griechen, sicher Bauern. Insgeheim haben sie mich sicher ausgelacht. Was macht dieser blöde Tourist mit diesem winzigen Rad hier auf dieser Strecke, die wir vielleicht mit einem 4×4 befahren?
Recht haben sie. Aber es war eben so.
Schließlich erreichte ich die Hauptstraße, die ich nicht mehr verließ, auch wenn das Navi es anders wollte. Manchmal konnte ich sogar fahren, an anderen Stellen nur schieben. Aber es war nicht so anstrengend. Alles in allem eine Wanderung mit gelegentlichen Radeinlagen. Die Straße war kaum befahren, was es angenehm machte.
Von weitem hatte ich schon vor längerer Zeit einen Hügel erblickt. Und ich hatte mir von Anfang an gedacht, dass das mein Ziel werden sollte. Aus der Ferne sah er ziemlich erhaben aus, sehr weit oben, zwischen den flacheren Hügeln und den noch höheren Bergen im Hintergrund. Am Ende sollte ich sogar recht behalten. Das war mein Ziel. Und das wurde immer klarer. Einige Kilometer vor der Ankunft erkannte ich ein Kreuz darauf. Nicht schlecht, das ist ja immer ein Zeichen für einen Berg, der es verdient, mit einem Kreuz geschmückt zu werden.
Tatsächlich hatte ich irgendwann unversehens das Ziel erreicht. Ich musste mit dem Rad gar nicht ganz nach oben, denn auf den Berg kann man damit ja nun einmal nicht. Unterhab der Ausgrabungsstätte befindet sich ein entzückendes Dorf. Urig, schief, verwunschen. Und eindeutig aus Steinen erbaut, die aus älteren Gebäuden stammten. Marmorblöcke waren manchmal zu erkennen. Leute haben also mal wieder die Reste dessen benutzt, das hier bereits früher verwendet worden war. So ist es eben.
Ich lief durch das Dorf, fand es zauberhaft. Polyrrhenia wäre allein schon eine Reise wert gewesen. Vielleicht ist es sogar die interessantere Attraktion. Es ist auf den Grundmauern der antiken Stadt errichtet, was man daran sieht, dass noch einige antike Gebäudeteile erhalten sind, zum Beispiel Bögen und auch das Aquädukt, was allerdings nicht sehr spektakulär aussieht. Ich habe es nur durch Zufall gefunden.
Ich aber stieg jetzt immer höher, kam an einer kleinen Kirche vorbei, die ebenfalls aus antikem Material erbaut worden ist. Über mir thronte die Akropolis, sagten zumindest einige Schilder. Ich wusste nicht, was mich erwartete, es war auch nicht so wichtig. Mein Rad hatte ich schon unten im Dorf angeschlossen, ich konnte also frei wandern.

Ich muss sagen, dass nicht viel erhalten ist von dieser einstmals so wichtigen Stadt. In der hellenistischen Zeit nach Alexander dem Großen und der römischen muss es ein wichtiger Ort gewesen sein. Das sagt zumindest Wikipedia. Und die Infotafeln. Letztlich war nicht viel zu sehen, ein paar Mauerreste, aufgeschichtete Steine, mehr nicht.
Aber die Aussicht.
Als ich endlich oben war, fühlte ich mich wie auf dem Dach von Kreta. Unter mir lag Kissamos, klein und winzig, das Meer schäumte selbst aus der Ferne. Hier oben war es übrigens wieder ziemlich windig, in den Bergen auf der Straße hingegen kaum. Eine kurze Pause von den Elementen.
Den Abstieg machte ich übrigens noch einmal spannend. Statt den gleichen Weg zurückzulaufen, folgte ich einem Pfad, den ich zu erkennen glaubte. Das passiert mir oft in Griechenland. Sicher war es nur ein Ziegenpfad, denn irgendwann endete er und ich wusste nicht, wo ich war. Schließlich kletterte ich prekär einen flachen Felsen nach oben und hatte den Weg wiedergefunden, den ich nun beim Abstieg nicht mehr verließ. Es war gut so. Und ich war mit mir ziemlich im Reinen.
Im Dorf angelangt, überlegte ich, ob ich im alten Kaffenion, das neu eröffnet schien, etwas essen sollte, entschied mich dann aber dazu, erst einmal wieder nach Kissamos zu fahren, um dort ein Sandwich zu kaufen. Und einen Kaffee. Jetzt, nachdem ich die Rezessionen gelesen habe, hätte ich es nicht machen, sondern lieber das Kaffenion besuchen sollen. Aber nun ist es zu spät. Es soll liebevoll von Freiwilligen betrieben werden, auf Spendenbasis. Und unten in der Stadt kam ich zur Strafe nicht um ein pappiges Sandwich herum, das auch noch zu trocken war. Tja, so ist das eben.
Ich surfte noch ein bisschen im Netz, bevor ich aufbrach, um noch den Supermarkt zu besuchen. Die Stadt schien vollkommen ausgestorben. Es ist Samstag, die Geschäfte waren zu. So ist das eben. Morgen fahre ich ab. Endgültig. Oder ich überlege es mir anders.
Es wird jedenfalls eine kleine Aktion, denn ich muss irgendwo auf dem Weg nach Chania den Bus wechseln. Ich weiß auch wo, habe jetzt aber den Namen des Ortes vergessen. Es wird schon klappen. Wahrscheinlich werde ich ein paar Stunden unterwegs sein. Weil ich nicht genau weiß, wann die Busse genau ankommen. Ich werde keine Risiken eingehen. Aber sonntags zu reisen ist immer ein bisschen speziell. Aber das soll mich nicht aufhalten.
Das Wetter ist jedenfalls schlechter geworden. Es ist beinahe kalt. Ich habe nur ein dünnes langärmliges Hemd mit. Es muss irgendwie reichen. Wird es wohl auch. Muss es, ich habe keine Lust, noch mehr zu kaufen.
Um die Weiterfahrt mache ich mir allerdings schon Gedanken. Denn die Fähre, die eigentlich von Heraklion nach Milos am nächsten Sonntag hätte fahren sollen, ist verschwunden. Einfach so. Sie war zumindest eine Option, um noch einmal ein paar Tage nach Sifnos zu kommen. Ich werde es beobachten, wahrscheinlich aber werde ich die nächsten zwölf Tage hier bleiben. Um dann in einem Rutsch nach Piräus zu schippern und dann zurück nach Berlin zu fliegen.
Ich habe die Hälfte der Zeit alleine bereits hinter mir. Es geht schnell.
Aber vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Ich habe Spaß, auf meine Art.
Und das ist nach dem Coronajahr das Wichtigste.