Taormina

Ich hatte heute etwas vor.
Allein diese Erkenntnis unterbrach meinen Schlaf angenehm früh, bereits um halb acht schlug ich die Augen auf. Ich würde es gerne auf meinen wieder erwachten Tatendrang schieben, aber wahrscheinlich waren meine Füße schuld, die so kalt waren, dass sie mein Ignorieren zu verhindern wussten. Dabei war es eigentlich nicht sehr kalt, nur scheint die Feuchtigkeit allgemein zugenommen zu haben, die überall hineinkriecht.

Es hatte natürlich den positiven Effekt, dass ich den Tag früh starten konnte. Syrakus wollte ich heute besuchen, suchte mir eine Zeit heraus, 10:30, zu der ich den Bus nehmen wollte, also am Hauptbahnhof sein musste. Ich frühstückte in Ruhe, denn ich dachte ja, dass ich Zeit hätte. Hatte ich aber nicht. Trotzdem verließ ich ohne Eile den Campingplatz, um zum Bahnhof zu spazieren. Hier kam ich kurz nach zehn an, wähnte also alles in bester Ordnung. Es herrschte Chaos, Busse fuhren, oder standen, viele Menschen warteten, auf was auch immer. Ich bekam heraus, wo ich die Tickets kaufen musste, in einer Bar am Platz. Hier erhielt ich den ersten Rückschlag. Der nächste Bus ging erst um 11:30, aus meinem sehr offiziellen Fahrplan stand etwas anderes. Aber es war einfach so. Auch bei den Rückfahrtzeiten gab es Differenzen, in jedem Fall würden die Busse nicht zu den Zeiten fahren, die auf dem offiziellen Informationsblatt der Touristeninformation ausgewiesen sind. Mein Tag drohte zu einem Desaster zu werden. Aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Hier sollten auch Busse nach Taormina fahren. Aber so sehr ich auch suchte, ich fand niemanden, der wusste, von wo. Ich lief also einfach zum Bahnhof, der Rough Guide hatte zwar davon abgeraten, doch was weiß der schon? Tatsächlich, gegen 11:15 fuhr der nächste Zug nach Taormina. Syrakus musste also warten, denn die Züge fuhren sogar später als die Busse. Der Vorteil bei der Bahn war, dass laut Fahrplan auch genügend Züge nach Catania zurückfahren würden, was ich zumindest für einen Vorteil hielt. Also, Planänderung, heute Taormina.

Entgegen aller Vorausahnungen kam ich pünktlich in Taormina-Giardino an, der Station des Ortes, direkt am Meer. Taormina selbst liegt hoch in den Bergen, so dass ich dem Rat des Rough Guides folgte und mich auf den Weg machte. 200 Meter nach der Station gab es eine Häuserlücke, dort führte ein schmaler Weg steil nach oben. Sehr steil. Beinahe fühlte ich mich an Gebirgstouren erinnert, auch schien die Sonne plötzlich und brachte mich gehörig ins Schwitzen. So etwas habe ich seit Wochen nicht mehr erlebt. Ich kann aber nicht behaupten, es genossen zu haben, denn es strengte ganz schön an. Sicher brauchte ich auch die angekündigte halbe Stunde, dann aber erreichte ich den Ort. Der Ausblick wurde mit jedem Schritt spektakulärer. Dann versank ich im historischen Häusermeer, bevor ich den Corso erreichte, die Hauptstraße, die sich semizirkular um die Stadt herum wickelt. Es war ein bewegendes Bild, weihnachtlich geschmückt lag der Corso vor mir, die Geschäfte allesamt geschmackvoll geschmückt, die Waren festlich inszeniert wie überall in Italien. Natürlich handelt es sich auch größten Teils um Luxusartikel, so dass vielleicht nichts anderes zu erwarten ist.

Ich aber suchte nur eines, das berühmte Theater, zu dem es eine direkte Verbindung zu meiner Kindheit gibt. Doch es wollte sich nicht zeigen. Ich fand den Uhrenturm, dahinter eine ebenso atmosphärische Straße, der ich auch folgte, aber nicht das römische Theater. Ich fand den Dom, dessen Platz mit einem prächtigen Marmorbrunnen geschmückt ist. Die Kirche selbst interessierte mich nicht sehr, also fragte ich einen Kellner nach dem Theater, der mich wieder zurückschickte. Wie passend. Der Rough Guide hatte überall Hinweisschilder versprochen, die nirgends zu entdecken waren. Dann sah ich eines, hundert Meter vom Theater entfernt. Es versteckt sich im Norden der Stadt. Ohne Murren zahlte ich den gesalzenen Eintrittspreis und ging hinein.
Es ist so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich habe selten einen dramatischeren Anblick gesehen und kann nur jedem empfehlen, es sich anzusehen. Wenn man keine anderen römischen Ruinen ansehen möchte, kann ich das verstehen. Aber das hier ist anders.

Die Theateraufbauten sind durchbrochen und geben den Blick auf den Ätna frei, der schneebedeckt in der Ferne vor sich hin rauchte. Das ist das Bild, an das ich mich erinnerte. Als ich klein war, waren gerade Tromp d’oeil in Mode. Es waren die etwas geschmacksbefreiten Siebziger eben (allerdings noch nichts im Vergleich zu den Achtzigern). Also durften wir uns jeweils ein Bild aussuchen, dass mein Vater dann an die Wand tapezierte. Ich glaube, es dürften ungefähr 3×2 Meter gewesen sein. Das ist der Grund, warum ich natürlich unbedingt hierher fahren musste. Das Schicksal hat es mir heute ermöglicht. Also saß ich auf den Stufen des Theaters und schaute mir den Ausblick an. Sicherlich eine Stunde blieb ich in der wärmenden Wintersonne sitzen, es war einfach unbeschreiblich. Ich frage mich gerade, warum wir niemals hergefahren sind. Nicht dass es mich als Kind gestört hätte. Meine Eltern waren konsequente Pauschalurlauber und wahrscheinlich lag Sizilien außerhalb der finanziellen Reichweite. In jedem Fall genoss ich es und kann sagen, wenn man auch sonst nichts weiter in Taormina sieht, nur das Theater, hat man seine Zeit gut genutzt. Aber nicht nur der Ätna ist zu sehen, auch die Küste, das Meer, wahrscheinlich an guten Tagen von Messina bis Catania. Leider war es kein sehr guter Tag, denn in der Luft lag ein weißer Schimmer. Diesig könnte man es nennen, auch der Vulkan sah damals auf dem riesigen Bild an meiner Wand wesentlich klarer aus. Es hilft nichts, gelohnt hat es sich trotzdem.

Taormina ist auch sonst spektakulär, allerdings auch sehr touristisch, wie man es von einem solchen Ort erwarten würde. Ich lief an Kirchen vorbei, auch an Palazzi, fotografierte Seitenstraßen und Winterblumen, sehr atmosphärisch. Allerdings ist es Winter, so dass es schon am frühen Nachmittag beginnt, dunkler zu werden. Nach zwei ist es eigentlich vorbei, vor allem wenn man Fotos machen will. Also beschloss ich, den Zug um 15 Uhr zurückzunehmen. Da ich noch eine Viertelstunde Zeit hatte, rannte ich den Hügel hinunter. Es ging alles sehr schnell und ich schaffte es rechtzeitig. Nur der Zug nicht. Er kam und kam nicht, was niemanden verwunderte, denn anscheinend ist das völlig normal. Ich nutzte die Zeit zum Schreiben. Irgendwann erschien die Anzeige, 40 Minuten Verspätung. Das muss man sich einmal vorstellen, auf 50 Kilometer von Messina aus 40 Minuten Verspätung herauszuarbeiten. Reife Leistung. Und das alles ohne Schnee und Eis. Es ist nicht die erste Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Italien, die manchmal schlichtweg eine Katastrophe sind. Jetzt aber sitze ich im Zug, bin natürlich zufrieden mit dem Tag, der mich weit zurückversetzt hat, in eine Zeit, als für mich noch alles anders war. Unbeschwert, ohne diese ewigen Zweifel, keine Verbitterung, keine Schwere. Und dennoch möchte ich nicht mehr zurück, denn dann hätte ich den ganzen Mist noch einmal vor mir. Nee, nee, das ist schon gut wie es ist. Und es ist auch gut, dass einige Dinge sich nicht ändern. Zum Beispiel die dramatische Lage des römischen Theaters. Es gab auf dieser Reise selten schönere Ausblicke.

Morgen werde ich noch dableiben, dann am Mittwoch weiterfahren. Mal sehen, was der Tag bringen wird. Alles hängt am Ende davon ab, ob ich rechtzeitig aus dem Bett komme. Unangenehm. Ist aber so.