Fréjus

Jetzt sind wir zu zweit! Aller Unkenrufe zum Trotz kam die Easyjet-Maschine überpünktlich aus Berlin in Nizza an. Es war ein freudiges Wiedersehen nach fast zweieinhalb Monaten.
Es dauerte einige Zeit, bis wir mit dem schweren Koffer aus den (gefühlt) zwanziger Jahren und ohne Rollen am Camper waren, den ich in einiger Entfernung zum Flughafen abgestellt hatte. Unser Ziel lag bei Fréjus, etwa 70 Kilometer entfernt an der Küste Richtung Marseille. Es wurde wieder zu einer Geduldsprobe, ich glaube, dass ich selten an einem Tag für so wenige Kilometer so viel Zeit gebraucht habe. Erst weit nach sieben Uhr abends kamen wir auf dem Campingplatz an, mussten uns noch gegen einige ältere Holländer durchsetzen, die sich bemühten, ganze Bereiche des Platzes abzusperren in Erwartung von Wagenladungen von Freunden, die irgendwann in den nächsten Tagen ankommen würden. Also wirklich. Es ist im Grunde ein sehr lustiges und meist gut gelauntes Völkchen, wenn auf Reisen, völlig in ihrem Element. Auch hier fanden wir eine für alle Parteien brauchbare Lösung, die nicht in blauen Flecken endete wie wahrscheinlich mit manch anderen europäischen Landsleuten.

Bis spät in die Nacht saßen Nina und ich dann bei einigen Flaschen Wein vor dem Wohnwagen, redeten über alles, was man eben als Paar nach langer Zeit beredet, unter anderem Dostojewskijs Schuld und Sühne, Verzeihung, die neue Übersetzung mit dem wenig poetisch klingenden Titel Verbrechen und Strafe. Es war das Buch, dass sie mir für diese Reise mitgegeben hatte. So wie jeder Bekannte, von dem ich ein Buch erbeten hatte, dass ich seiner Meinung nach auf der Fahrt lesen sollte. Von meinem Bruder bekam ich „High Fidelity“, auch eine interessante Wahl, denn mit jedem Titel haben mir die Freunde etwas sagen wollen. Über Raskolnikov bin ich mir übrigens noch nicht ganz schlüssig, immer die Frage betreffend, wie weit man bei der Verfolgung seiner Ideen gehen darf. Aber diese Antwort wird mein Leben irgendwann geben und in der Rücksicht darauf von anderen gegeben werden können.
Nur um nochmals kurz auf das Thema Reisejournal zurückzukommen, wir hatten am Ende einen gehörigen Schwips.

Der nächste Tag begann standardgemäß mit Kaffee und Croissant, ein kleiner Luxus, den ich mir bis dahin aufgehoben hatte und der wenigstens etwas gegen den Kater half. Wie es so oft ist, mussten wir uns- den Routine-Rhythmus betreffend – erst wieder aneinander gewöhnen, ich spreche dabei von organisatorischen Dingen wie das Finden von Seife, Taschenlampen oder Raum in Schränken. Trotzdem begannen wir unseren ersten Tag recht zeitig und liefen vom Campingplatz nach Fréjus, das ca. zwei Kilometer entfernt lag. Wir kamen an einem riesigen Funpark vorbei, der noch nicht geöffnet hatte. Auch eine Kartbahn sahen wir, eine Attraktion, die mich etwas mehr interessierte, doch für den Augenblick als solche ohne mich auskommen muss. Wir wollten schließlich etwas Sightseeing machen. Erst schwenkten wir nach Fréjus Plage, ich hatte die Hoffnung, dort einen der berühmten französischen Wochenmärkte zu finden, womit wir jedoch keinen Erfolg hatten. Wir liefen stattdessen durch ein Gebiet mit modernen Häusern, meist ein oder Zweifamilien-Gebäude. Irgendwann gelangten wir an den Strand, der auf mich wenig Eindruck machte. Vielleicht lag es daran, dass ich dringend einen Kaffee gegen meine hämmernden Kopfschmerzen brauchte oder weil Strände eigentlich immer gleich aussehen. Also liefen wir wieder zurück, fanden die kleine Altstadt problemlos.

Auf dem ersten nennenswerten Platz blieben wir kleben, ein nettes Straßencafé lud uns so herzlich ein, dass wir nicht widerstehen konnten. Anscheinend hatte ich in den letzten Stunden zu viel Deutsch gesprochen, was meinen rudimentären Französisch-Kenntnissen in keiner Weise geholfen hatte. Als ich bestellen wollte, kamen mir die Worte nur sehr unbeholfen über die Lippen. Der Kellner, wahrscheinlich einer der wenigen Franzosen überhaupt, der diese Sprache beherrscht, antwortete mir in gutem Englisch. Niemand, der diese Situation nicht kennt, kann sich dem Frust vorstellen, den eine solche linguistische Ablehnung auslöst. Es ist wie das englische Sprichwort: Nice try, but try again. Ich war danach etwas zerknirscht, aber das hilft nichts, das nächste Mal muss ich es besser aussprechen. Keine Frage.

Der Ort selbst ist nicht sehr groß und vor allem durch seine römischen Ruinen bekannt. Die Reste des Aquäduktes hatten wir bereits auf der Hinfahrt gestern in Augenschein genommen, ich hatte mich noch laut gefragt, ob es antike Reste waren oder welche aus der Zeit der industriellen Revolution. Wir beide dachten eigentlich zweiteres, doch sind es wirklich römische Ruinen, was eigentlich eine Hommage an die Baumeister der Antike ist, deren Künste so viele Tausend Jahre lang kopiert worden sind.
Die römischen Ruinen in der Stadt selbst beeindruckten uns nicht so sehr. Das Amphitheater ist kaum mehr als ein halbes Oval, in dem sich Tauben und Hunde in stetem Wechsel entleeren. Die alte Stadtmauer erkannte ich auch erst auf den zweiten Blick, sie verläuft an der Straße nach Fréjus-Plage. Was sich wirklich lohnt, ist Fréjus selbst. Es ist eine hübsche mittelalterliche Stadt mit viel provencalischem (oder besser azzurischem, denn wir sind noch nicht in der Provence) Charme. Da Sonntag war, waren die Geschäfte geschlossen, ich kann mir vorstellen, dass es sonst lebhafter und noch charmanter zugeht. Jetzt zeigte sich auch ab und an die Sonne, die sich seit Tagesbeginn weitgehend versteckt gehalten hatte und zauberte im Ort die leuchtenden Farben hervor, für die die südeuropäischen Länder berühmt sind. Überall wuchs Lavendel und Rosmarin, was mir erst jetzt auffiel. Wenn ich also einmal Lamm kochen möchte, sollte ich vorher einen Ort besuchen, dann wäre ich mit Kräutern ausgestattet. Muss ich mir merken.
Auf dem Rückweg merkten Nina und ich, dass wir eine ziemlich weite Strecke gelaufen waren. Man unterschätzt das Schlendern in einer Stadt und man vergisst, regelmäßig Pause zu machen.
Für den ersten Tag waren wir fleißig genug, haben wir entschieden. Morgen geht es weiter, langsam und stetig, denn auf eine Mammutfahrt wie gestern verspüre ich keine Lust.
Es soll ja Spaß machen und keine Tortur werden.