Bordighera

Ich erwachte heute Morgen mit dem Gefühl, dass ich in keiner Verfassung war, um die Fahrt fortzusetzen. Ich ging in Gedanken nochmals den gestrigen Tag durch und fragte mich, warum es mich so gewalttätig aus Frankreich hinaus gespült hat. Es war wie eine seichte Welle, deren Strömung jedoch so stark war, dass ich mich kaum dagegen habe wehren können. Sicher lag es auch daran, dass mir die Gegend um Nizza und danach vor allem Monaco nicht gefällt. Zu künstlich und aufgebläht. So jedenfalls geht meine französische Etappe vorüber, das ist mir wirklich erst heute Morgen bewusst geworden. Bei Marokko und Spanien habe ich jeweils ein kleines Statement geschrieben, das fällt mir eigenartigerweise bei Frankreich schwer. Anders als in den beiden Ländern zuvor habe ich mich hier weniger wie ein Ausländer bewegt, konnte mich verständigen, zum Schluss auch immer besser und die Zeit zu zweit war natürlich auch ein bisschen Urlaub, auch wenn wir viel gereist sind. Nina und ich sprachen vor wenigen Tagen darüber, welcher Ort wohl der Höhepunkt unserer gemeinsamen Zeit war. Ich musste nicht lange nachdenken, denn Oppede, die Geisterstadt in der Provence, hat auf mich eindeutig den größten Eindruck gemacht. Ansonsten hat Frankreich alle unsere Erwartungen erfüllt und uns einen sorgenfreien und erlebnisreichen Urlaub mit vielen Eindrücken unterschiedlichster Art geschenkt. Ich habe einige Male auch kulinarisch genießen dürfen, der Höhepunkt war sicher das Kosten der Bouillabaisse in Marseille, auch wenn es Ninas war, die darauf bestanden hat. Ich muss gestehen, dass es mir außerordentlich gut geschmeckt hat, etwas, das ich erst jetzt zugeben möchte, weil es ja nicht meine Mahlzeit war. Aber allein hätte ich es mir nie geleistet, so aber durfte ich das erleben. Jetzt ist es mit dem auswärts essen erst einmal vorbei, obwohl ich sicher gegen Ende der Reise auf die Suche nach einer perfekten Pizza gehen werde. Aber im Moment komme ich an dem frischen Gemüse nicht vorbei. Und ich rede jetzt ausnahmsweise einmal nicht von den ausgedehnten Strandspaziergängen.
Es gibt hier die herrlichsten roten Paprikaschoten, die ich je gesehen habe, und die Zucchini sind außergewöhnlich lang und dünn. Die Tomaten riechen, wie Tomaten riechen sollten und die Auberginen, manchmal unförmig, haben diesen herzhaften Geschmack, wenn sie mit Olivenöl gebraten werden.

Ich kann heute abschweifen, denn im Grunde ist nichts geschehen, zumindest nichts, was ich an Reisehöhepunkten berichten könnte. Hier, kurz hinter der Grenze in Ligurien, befindet sich eigentlich nur ein Strandressort nach dem anderen. Ganz ehrlich, es ist gut zum Ausspannen. Auch stand ich heute vor sehr schwierigen Entscheidungen, denn es führen mehrere Wege nach Rom, auch wenn die Ewige Stadt dieses Jahr nicht auf meiner Route liegt. Sie wird es mir verzeihen, denn im Grunde habe ich ihr in einem meiner Romane bereits ein wie ich finde eindrucksvolles Denkmal gesetzt. (Anmerkung: Später, im Winter, habe ich sie dann doch noch besucht.)
Die Route ist diesmal nicht so leicht, ich musste in letzter Zeit oft an Florenz denken, dass ich vor neun Jahren verlassen und wie eine Verflossene nie wieder aufgesucht habe. Und auch wenn ich die alte Dame gerne wiedersehen würde, ist es doch Zeit, sich neuen Abenteuern und Lieben zuzuwenden. Auch eine Reise durch die italienischen Alpen habe ich in Betracht gezogen, käme dabei an Turin und Mailand vorbei, die ich auch nicht kenne. Es ist eine harte Entscheidung, der Kampf hat sehr lange gedauert, mehrere Stunden und erst gegen Mittag kam ich darauf, dass ich morgen nach Genua, danach dann in die Emilia Romana fahren werde. Dabei überquere ich zwangsläufig den Apennin, so dass Zeit für das Wandern sein wird, das für mich eher eine Betätigung ist, die ich allein und mit meiner Geschwindigkeit ausführen möchte. Danach fahre ich nach Cremona, das ich auch noch nicht kenne. Das reicht erst einmal, damit bin ich sicher eine Woche beschäftigt. Es wird immer noch Zeit sein, den Alpen einen Hoheitsbesuch abzustatten, wenn ich weiter nach Triest fahre. Aber so weit bin ich mit der Planung noch nicht. Auf diese Weise jedoch umfahre ich alle Gegenden, die ich bislang in Italien bereits gesehen habe, ein ziemliches Kunststück. In der Zeit zwischen 24 und 31 war ich nicht weniger als fünf Mal in Italien. Ich habe dieses Land geliebt, habe es erkundet, dabei jedoch den Fehler begangen, niemals die Sprache zu lernen. Es waren auch niemals kleine Urlaube, manchmal war ich wochenlang unterwegs. Mit 31 befand ich mich in einer beruflichen und privaten Sackgasse, so dass ich beschloss, mein Glück in Florenz zu versuchen. Ich schrieb mich damals an einer privaten Sprachschule ein, hatte vier Stunden Unterricht am Tag, den Rest der Zeit nutzte ich zur Jobsuche. Mein Aufenthalt stand von Anfang an unter keinem guten Stern, denn ich hatte eine völlig absurde Jahreszeit für mein Vorhaben gewählt, vielleicht mit Absicht. Der Winter stand vor der Tür, so dass ich keine Chance auf einen Touristenjob hatte, was mir ganz recht war, denn ein guter Deutscher, der ich damals war, sucht nach Bodenständigem und geht wenige Risiken ein. Wenigstens das hat sich geändert. Jedenfalls hatte ich das Glück, doch ein Angebot zu bekommen. In Siena suchte die Avis-Station einen Rezeptionisten, jedoch waren die Arbeitsbedingungen so unvorstellbar, dass ich nach wenigen Tagen des Nachdenkens ablehnte. Ich wusste, dass das die einzige Chance gewesen war, eine Stelle zu finden. Damals hielt ich noch viel auf mein Wirtschaftsstudium und meine schon damals immense Auslandserfahrung und im Nachhinein bin ich sehr froh, damals nicht im Nichts dieses so wundervollen Landes verschwunden zu sein, das für den Urlauber so eindrucksvoll und für den darin Lebenden so frustrierend ist. Das letztere ist nicht meine Erfahrung, sondern die von mindestens zwei Dutzend junger, studierter Italiener, die in ihrem Land keine berufliche Zukunft gesehen haben. Und es dennoch so sehr lieben, dass kaum ein Tag vergeht, an dem sie nicht davon reden.

Ich jedenfalls habe damals Florenz nach drei Monaten verlassen, mit dem Blick nach vorne, erwachsener und reifer. Es begann mein englisches Jahrzehnt, denn obwohl ich vorher in Manchester gewohnt hatte, eher aus der Notwendigkeit heraus, zog ich nun nach Bedfordshire und erlebte die glücklichsten, wenn auch schwierigsten Jahre meines bisherigen Lebens. Schwierig deshalb, weil jemand wie ich es sich einfach niemals leicht macht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Florenz, mein geliebtes Florenz, habe ich nie wieder gesehen. Auch dieses Jahr nicht. Damals bin ich jeden Tag über die Ponte Vecchio gegangen, jeden Abend lief ich durch das um diese Zeit beinahe ausgestorbene Florenz. Es ist müßig, sich die Vergangenheit wiederholen zu wollen. Ich werde es jetzt nicht tun, aber eines Tages, vielleicht wenn ich vom Schreiben leben kann und somit unabhängig von meiner Wahl des Wohnortes bin, werde ich hierher zurückkehren und somit meine eigene Realität in der Toskana leben. Eine, die frei ist von der Härte des Lebens. Etwas also, dass die Italiener hier so gut kennen. (Anmerkung: Auch Florenz habe ich auf dieser Reise noch gesehen, allerdings erst viel, viel später).