Antalya

Eine nicht sehr schöne Nacht hielt mich vom Schlafen ab. Vielleicht war es der Gedanke, nicht hier sein zu wollen. In jedem Fall schwirrte eine einsame Mücke um meinen Kopf herum. Öfters schaltete ich die Taschenlampe ein, in der Hoffnung, dass ich das störende Biest erledigen könnte. Doch erst um fünf Uhr morgens saß die Mücke direkt neben mir an der Wand. Ein kurzer Schlag und das Vieh war Geschichte. Es hat nicht einmal gestochen, sonst hätte ich jetzt einen roten Fleck an der Wand. Dafür war ich die Hälfte der Nacht wach. Und entsprechend fit und gelaunt am Morgen.

Heute sollte Teil zwei meiner Suche nach einer geeigneten Unterkunft folgen. Im Internet hatte ich einen Platz ca. 25 Kilometer westlich gefunden. Doch ehe ich aus Antalya herausgefunden hatte, war mindestens eine Stunde vergangen. An einem Punkt war ich nach zwanzig Minuten exakt dort, wo ich losgefahren war. Es ist eine der schlimmsten und unübersichtlichsten Städte, die ich kenne. Zumal es auch unmöglich ist zu wenden, wenn man einmal falsch abgebogen ist. Kilometer vergehen, bis einmal ein Durchbruch des Grünstreifens mit Wendemöglichkeit auftaucht. Mein Lenkrad weist nun Beißspuren auf, jedes Mal eine, wenn ich in die falsche Richtung fahren musste…. aber lassen wir das.

Am Ende schaffte ich es trotzdem, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Erst gegen halb elf kam ich bei den Koordinaten an, die ich recherchiert hatte. Laut Acsi sollte der Platz noch geöffnet haben. Natürlich stand ich inmitten einer Einöde, weit und breit kein Mensch, alles abgeschlossen, das einzige Lebewesen war ein grimmiger Köter, der zum Glück angeleint war. Auf der Hinfahrt hatte ich jedoch ein Schild mit dem Hinweis auf einen Platz gesehen, den ich viel weiter im Zentrum vermutet hatte, den Reisende jedoch nicht empfahlen. In Ermangelung von Alternativen – mir ging schon durch den Kopf, wieder zum Ekelplatz zurückzufahren, doch dann dachte ich an das mit Wasser vollgesogene, gebrauchte Toilettenpapier, das überall herumgelegen hatte – fuhr ich also zu diesem Campingplatz, zumindest für mich heute Nacht sollte er reichen. Ansonsten würden wir hier keine Wurzeln schlagen. Er ist mehr schlecht als recht. Es ist eine Sache, die ich nicht verstehe. Immer mehr West-Europäer kommen her. Warum passen sich die Betreiber nicht ein wenig den Wünschen an? Es kostet Geld, denn die Franzosen, die ebenfalls heute angekommen sind, werden sicher nicht die Woche bleiben, so wie sie es diskutiert haben. Zwar sind die Einrichtungen besser, aber immer noch nicht besonders appetitlich. Nina kann ich das vielleicht eine Nacht zumuten, spätestens jedoch bei der verstopften Dusche, bei der die Haare des Vorbenutzers unweigerlich um die Füße herumschwimmen, hört es dann auf. (Anmerkung ein Jahr später: Ich habe es leider nicht dokumentiert, aber dieser Platz ist wirklich nicht zu empfehlen.)

Ich beschloss, nicht mehr daran zu denken und begann den Camper aufzuräumen. Nach einer halben Stunde war ich völlig erschöpft. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber körperlich bin ich nicht gerade auf der Höhe. Vielleicht liegt es am Gewichtsverlust, sicher wiege ich inzwischen weit unter 60 Kg, oder an der Wanderung von vor einigen Tagen. Keine Ahnung. Auf die Ernährung achte ich, auch wenn ein Mineral- oder Vitaminmangel natürlich nicht auszuschließen ist. Sei es drum, es wird schon wieder.
Morgen kommt Nina an. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Beinahe als ob ich eine Fremde treffen würde. Einsamkeit macht eigenartige Dinge mit einem. Man stellt sich den anderen vor, das vertrauteste Gesicht, und versucht, es mit Leben zu erfüllen. Doch es geht nicht. Was entsteht ist ein Trugbild, etwas, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hat. Je länger eine Trennung dauert, desto weiter entfernt sich dieses Bild von dem echten Menschen. Ich habe das schon das letzte Mal erlebt, als ich Nina in Nizza traf. Es dauerte eine Weile, bis das Trugbild aus meinem Kopf verschwunden war. Diesmal war die Trennung noch länger, vier Monate haben wir uns nur ab und an gesprochen. Ich bin gespannt auf diesen Moment, wenn Wirklichkeit und Fantasie aufeinanderprallen. Ein wenig fürchte ich mich allerdings auch davor, denn es wird nicht ausbleiben, dass ich reagieren werde. Hoffentlich nicht zu heftig oder befremdend.
Wir werden uns schon wieder kennenlernen, auch wenn es nicht so sein wird wie am Anfang vor sechs Jahren. Es wird also sehr spannend.

Heute ist mir aufgefallen, dass ich den Todestag meiner Mutter vergessen habe. Erst hat es mich erschreckt, dann aber beruhigte ich mich. Eigentlich ist es keine schlechte Sache. Vor einigen Monaten habe ich meine Eltern ebenso wie ehemalige Kollegen und Chefs auf imaginäre Wolken getan und fortgeschickt. Nun brauche ich mich nicht wundern, wenn das Wirkung zeigt. Damals waren meine Eltern sehr leicht auf diese Wolke gegangen. Keine Verbitterung, keine Diskussion. Ich sehe sie schon noch in einiger Entfernung, aber sie entfernen sich. Sie haben mich losgelassen, nun mache ich es mit ihnen. Zeit wird es. Das Schöne ist, dass ich sie lächeln sehe. Mein abstruser Lebensweg erfreut sie also, sie ermutigen mich. Wie pervers es jedoch ist, dass erst ihr Tod mich auf diesen Pfad geschickt hat. Wären sie noch am Leben, säße ich jetzt nicht hier, sondern wäre wahrscheinlich irgendein unwichtiger Manager auf der unteren oder mittleren Ebene. Und würde mich wichtig machen, denn sonst bräuchte man mich nicht. Egal. Ich habe das hier meinen Eltern zu verdanken, wenn nicht geistig, dann physisch, denn ohne das beträchtliche Erbe wäre ich nicht in der Lage gewesen, zu reisen oder zu schreiben. Diesen Zwiespalt habe ich lange nicht überwunden, sehe ihn jetzt aber eher als Ursache-Wirkung an. Somit weiß ich nicht, was sonst geschehen wäre. Und eigentlich ist es auch unerheblich. So ist es nun mal. Und es ist trotz des Schmerzes gut so.