Thessaloniki
Die Rückfahrt gestern zog sich etwas hin, der Berufsverkehr nahm keine Rücksicht auf meine Reisepläne. Am Ende war ich nicht vor sechs auf dem Platz, der inzwischen auch abends von den gleichen Hunden bevölkert wird, die mir tags zuvor am Strand den Nerv geraubt haben. Es wäre in jedem Fall ein guter Grund, um abzufahren. Gestern schaffte ich es übrigens wirklich noch, an dem Roman zu arbeiten. Es beweist meine alte These, dass Reisen den Geist anregt und nicht erschöpft, weil es so abwechslungsreich ist. Ich halte das übrigens für ein Erfolgskonzept, die Arbeit im Allgemeinen betreffend. Denn wenn man es schafft, die Arbeit für Menschen interessant zu gestalten, sprich sie mit häufig wechselnden Aufgaben zu betreuen, wird zumindest ein Teil der Arbeitnehmer produktiver, nämlich derjenige, der im Grunde intellektuell unterfordert ist. Das Gehirn erhält seinen Input praktisch durch die Beweglichkeit. Allerdings muss man damit vorsichtig umgehen, denn die Mehrheit der Menschen wäre rasch überfordert, auch das habe ich selbst bei den simpelsten Aufgaben schon gesehen. Sei es drum. Für mich jedenfalls war es eine Lehre. Bloß nicht aufhören.
Heute wollte ich nochmals in die Stadt, spielte sogar mit dem Gedanken, morgen noch einen Tag dranzuhängen.
Ich begann den Besuch heute anders. Stand gestern die Besichtigung von außergewöhnlichen Bauwerken im Vordergrund, wollte ich mich heute zumindest teilweise dem „echten“ Thessaloniki zuwenden. Ich lief also einfach die High Street entlang, die vielen Geschäfte bewiesen einmal wieder, dass es mit der Krise nicht weit her sein kann. Genauso wie die vollen Cafés, in denen die teuersten Koffeingetränke Europas von den Studenten konsumiert werden, die sich das wer weiß wie leisten. Die Statistik allerdings besagt etwas anderes. Danach ist die Prügel ausländischer Politiker auf die Griechen nicht angebracht. Diese teilen immer wieder gerne mit, dass die Griechen seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt haben. Bei einem durchschnittlichen Einkommen von um die 1000 Euro und Lebenshaltungskosten, die eher an England als an Deutschland erinnern, kann dieses Völkchen einem bei so viel Unverständnis eigentlich nur leidtun. Woran sie sparen wollen, ist mir ein Rätsel. Schon jetzt leben Rentner von unter 600 Euro im Monat, das ist für mich kultivierte Armut.
Ich jedenfalls habe meinen Teil beigetragen. Anders als viele Wohnmobilisten habe ich immer Campingplätze angefahren, die 1000 Euro im Monat September werde ich gleichmäßig unter den Griechen verteilt haben. Würde das jeder machen, ginge es ihnen vielleicht besser. Warum die Griechen das Wildcamper-Verbot nicht rigoros durchsetzen, ist mir ein Rätsel.
Aber ich drifte ab. Ich lief bis zum Platz des Achilles, wo eine Bronzestatue vom großem Philosophen und Lehrer Alexanders des Großen steht. Wie bei Heiligenstatuen in Rom sind auch seine Zehen völlig blank gerieben, wahrscheinlich versuchen Touristen, etwas von seiner Weisheit zu erlangen. Immer kräftig reiben, das macht zwar nicht klüger, aber es glänzt so schön.
Einem Eintrag im Rough Guide zufolge befand sich etwas weiter nördlich davon ein Basar. Dort wollte ich hin, entdeckte dabei die römische Agora, von der nicht mehr viel übrig ist. Wenigstens steht im Osten des Geländes ein kleines Theater, auch wenn das im Vergleich zu dem in Ephesos winzig ist. Den Basar fand ich, Hallen, in denen alles Mögliche verkauft wird. Beinahe leistete ich mir ein Hemd, doch es passte nicht und es war ein Einzelstück. Das war die erste materielle Versuchung seit mehreren Monaten, und sie wurde sofort wieder zunichtegemacht. Meinem Budget tut es gut. Direkt dahinter fand ich den ersten Hamam in Thessaloniki, aus dem 15. Jahrhundert. Für mich beginnt sich der Kreis langsam zu schließen. Den letzten Hamam habe ich in Andalusien gesehen, jetzt komme ich langsam wieder in orientalische Gefilde. Das Gebäude selbst dient als Ausstellungsraum, aber es sind noch viele Originalstücke zu sehen, zum Beispiel marmorne Wannen und Becken. Ich habe mich niemals durchringen können, in Marokko einen Hamam zu besuchen. Vielleicht schaffe ich es in der Türkei.
Ich lief einfach weiter, traf auf etliche Kirchen, manche größer, manche kleiner, die meisten allerdings geschlossen. Ayios Dhimitros war offen, ich beobachtete einige Zeit eine Zigeunersippe, die vor dem Eingang bettelte. Ein Kind wurde dabei immer weiter gegeben. Es tat mir wirklich leid. Schlimm finde ich, mit welcher Abscheu diese Menschen betteln. Ich habe das Gefühl, sie schauen auf jeden hinunter. Wenn sie etwas kriegen, ist es nie genug, ein Dankeschön ist es schon gar nicht wert. Bekommen sie nichts, fluchen sie. Alles in allem keine schöne Angelegenheit. Das alles nur, um dem Patriarchen der Familie seinen Mercedes zu finanzieren. Das ist natürlich eine wüste Unterstellung meinerseits.
Die Kirche selbst faszinierte mich, wahrscheinlich aus den falschen Gründen. Wie bereits gestern in der Akropolis bewunderte ich die antiken Bauteile, keine Säule glich der anderen, wüst zusammen geklaut und wieder verwertet. Auch die Kapitelle sind zum Teil antik, römische korinthische Säulen sah ich am häufigsten. Insgesamt gefiel mir die Atmosphäre in der Kirche. Die Jungfrau Maria in der Kuppel des Chors lächelte übrigens ein wenig, zumindest sah es so aus. Es ist ein nicht eindeutiger Gesichtsausdruck, denn von einem anderen Blickwinkel aus schien sie wieder zu leiden. Doch die ganz leicht nach oben gezogenen Mundwinkel geben ihr etwas Zufriedenes, was man eigentlich bei einer Mutter mit ihrem Kind auf dem Schoß auch erwarten kann.
Ich entschied mich, nochmals den Berg zu besteigen, um die berühmten Mosaike der Ossios David zu sehen, einer winzigen Kirche weit oben am Hügel. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mich der gestrige Aufstieg angestrengt hatte. Ich musste ganz schön arbeiten, fand auch die Kirche nicht gleich. Als ich endlich oben war und ein Schild mir den Weg gewiesen hatte, stand ich vor verschlossenen Türen. Geöffnet von 8 bis 12 und 18 bis 20 Uhr. Es war 14 Uhr. So etwas ist ärgerlich, aber nicht zu ändern. Man kann nicht immer Glück haben so wie gestern. Ich schaffte es auf em Rückweg gerade so in ein Café, wo ich jetzt sitze und ein Frappé genieße. Sehen und Gesehen werden, das ist das Motto. Wie heute Morgen schon im Bus, in dem ich die Stunde Fahrt für meinen Roman nutzte, kann ich mich in Menschenmengen vollständig in meine Arbeit versenken. In der Einsamkeit schaffe ich das nicht einmal ansatzweise so intensiv. Das ist eigenartig, aber Teil meiner Arbeit. Ich bin daher sicher, dass ich eher in eine Großstadt gehöre. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ich nicht gestört werde, auch eine Eigenschaft einer Großstadt, die, je größer sie ist, immer anonymer wird.
Eigentlich müsste ich noch das berühmte Museum besichtigen, mit den Schätzen aus dem Grab Phillips des Zweiten, Alexanders Vater. Im Moment habe ich keine Lust dazu, auch morgen noch hier zu bleiben. Wir werden sehen. Wahrscheinlich fahre ich morgen weiter in Richtung Türkei. Es wird immer herbstlicher. Und mein Weg ist noch lang. Sicher werde ich noch mehr als einmal meine Meinung ändern. Aber das gehört zum Reisen. Und zur Freiheit selbst.