3. – 5.9. Zeller See

Vor drei Tagen sind wir aus Berlin abgefahren, um endlich unseren ersten Wanderurlaub gemeinsam zu verbringen. Die Wochen vorher waren geprägt von stressigen Terminen und Renovierungsarbeiten in der Wohnung, so dass die Vorbereitungen in einem Schlamassel versanken. Selten bin ich so unvorbereitet in eine Reise hinein gestartet wie jetzt. Ich habe sogar einige Tage nicht geschrieben, weil mich die Ereignisse nicht so einfach losgelassen haben. Nur kurz, meine ersten Versuche, als Übersetzer meine Brötchen zu verdienen, waren nicht von dem Erfolg gekrönt, den ich mir erhofft hatte. Es ging sogar so weit, dass ein Kunde vollkommen abgesprungen ist. Die Gründe möchte ich hier aus Pietätsgründen nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten. Aber manchmal besteht eben ein Missverhältnis zwischen Lohn und erwarteter Qualität. Firstclass quality, third rate wages, know what I mean? Wahrscheinlich werde ich mich an so etwas nie gewöhnen, weil ich es als zutiefst ungerecht empfinde. Die Argumentation, dass der Markt das nicht hergibt, halte ich für naiv, denn schon längst folgen die meisten Märkte nicht mehr dem einfachen Schema von Angebot und Nachfrage, sondern einem System an Manipulation und Lobbyismus, sehr zum Schaden der allgemeinen Wirtschaftslage. Am Ende ist es nicht wichtig. Denn wieder reiht sich ein Misserfolg auf meinem nicht mehr enden wollenden Regal voll ähnlicher Ereignisse ein. Doch wie immer schaue ich nach einigen Tagen nur noch lächelnd zurück, auch wenn ich zugeben muss, dass ich am Freitag vor drei Tagen doch sehr enttäuscht und niedergeschlagen gewesen bin.
Freitag Abend sind wir also abgefahren, haben gegen 22 Uhr eine geeignete Autobahnraststätte erreicht, auf der wir die Nacht verbracht haben. Je öfter wir das tun, desto besser schlafen wir auf diesen Durchgangsstationen. Es ist eben nicht anders als bei Brummi-Fahrern, auch wenn wir es natürlich nur selten erleben, während diese armen Arbeiter ihr Leben hier dauerhaft zu verbringen scheinen.

Am Tag darauf setzten wir die Fahrt fort. Die Autobahn war uns nicht sehr gut gesonnen, denn um München herum verloren wir mehrere Stunden in Staus. Unser Ziel dieses Mal: die Gegend um den Chiemsee herum, die wir gegen späten Nachmittag auch erreichten. Es geschah nicht mehr viel an diesem Tag, außer einem kleinen Spaziergang in die Nachbardörfer und einem Sprung Ninas in den campingplatzeigenen See, den Zeller See. Wir ließen es ruhig angehen. Spätsommerliche Temperaturen von 30 Grad luden dazu ein, endlich den Stress der letzten Wochen abzuschütteln, die weit weg schienen. Waren sie auch, denn weiter kann man in Deutschland kaum von Berlin entfernt sein. 700 Kilometer immerhin.
Wir sind zum Wandern hier, das war es auch, was wir am Sonntag taten. Vom Campingplatz aus führt ein Weg direkt in den Wald hinein. Die Hochplatte, die sich in ca. 1600 Metern Höhe über uns erstreckte, wollten wir erklimmen. Was wir uns an diesem ersten Tag in den Alpen vorgenommen hatten, war uns in keinster Weise bewusst. In jedem Fall hatten wir keine Schön-Wetter-Wanderung vor uns, zumindest nicht für Preußen, die den ganzen Tag in Berlin vor dem Computer hocken und sich kaum bewegen. Einen ersten Geschmack bekamen wir auf den ersten Metern, denn der Wanderweg führte steil nach oben. Hatten wir gehofft, dass sich dieser Umstand schon wieder ändern würde, wurden wir enttäuscht. Fast die ganze Zeit über stolperten wir über Felsen und Wurzeln gen Gipfel. Trotzdem gewöhnten wir uns schnell daran, denn der Körper, der anfangs noch so sehr gebrüllt hatte, verstummte, und machte dem weiterblickenden Geist Platz, der sich mehr und mehr nur auf den nächsten Schritt konzentriert. Wir wurden bald durch die atemberaubenden Aussichten belohnt. In der Ferne sahen wir noch höhere Bergketten, unter uns wand sich das Tal und langsam gewann die Sonne gegen die grauen Wolken, die den Vormittag bestimmt hatten. Waren wir beim Anstieg noch relativ ungestört, kamen uns, als wir den Hochweg erreichten, immer mehr Wanderer entgegen. Die meisten hatten sicher die Sesselbahn in einigen Kilometern Entfernung genommen, waren daher alle noch in wesentlich besserer Verfassung als wir, die wir uns nach oben gekämpft hatten. Jetzt wollten wir natürlich zum Gipfel. Wie es immer so ist, sind die letzten Meter die steilsten und schlimmsten. Also wie im Leben. Ich dachte jedes Mal, nach der nächsten Biegung oben zu sein, war immer wieder enttäuscht, weil das ganz offensichtlich nicht der Fall war. Wir hatten die gefährlichsten Stellen immer noch vor uns. Auch lachten mich wie üblich einige der von der Wanderindustrie gehätschelten Schön-Wetter-Wanderer wegen meiner Ausrüstung aus. Ich trug Trekking-Sandalen und meinen urigen, selbst-geschnitzen Wanderstock aus dem Lake Distrikt. Eben keinen Hightech-Stock und perforierte Wanderschuhe aus atmungsaktivem Vitalstoff. Oder was auch immer. Aber schon lange bin ich über den Punk hinweg, mich über so viel Ignoranz zu ärgern. Lass sie reden und laufen.

Als wir endlich das Gipfelkreuz vor uns hatten, glaubten wir es kaum. Die Sonne schien jetzt ohne ein Wölkchen und wir teilten die herrliche Aussicht mit einigen anderen Gipfelstürmern. Wir alle waren schweißgebadet, aber glücklich. Leider gab es auf der Hochplatte Millionen fliegende Ameisen, so dass wir es nicht lange aushielten. Der Abstieg begann also nach nur wenigen Minuten.
Die Wettervorhersage hatte gegen Nachmittag Regen angekündigt, so dass ich immer ein Auge auf den Himmel hatte, der jedoch immer recht blau war. Wir hatten uns entschieden, nicht auf direktem Wege hinunterzusteigen, sondern zur Hochplattenbahn zu wandern. Das dortige Gasthaus versorgte uns mit einer willkommenen Erfrischung, dann fuhren wir hinunter nach Niederfels. Es war gar nicht einfach, danach den Wanderweg nach Raiten zu finden, auch wenn ich sagen muss, dass die Strecken alle ausgezeichnet ausgeschildert sind. Die Nachmittagssonne begleitete uns, von den angekündigten Gewittern war keine Spur zu sehen, so dass wir gemächlich und am Ende unserer Kräfte den Talweg entlang schwadronierten. Es ist bei diesen Gelegenheiten immer wieder erbaulich, den Gipfel von unten aus zu betrachten, den wir gerade erklommen hatten. Beinahe 1000 Höhenmeter über uns bäumte er sich auf und es ist ein fantastisches Gefühl zu wissen, dass wir noch vor wenigen Stunden aus eigenen Kräften dort oben gewesen waren. Vielleicht ist es von unten aus gesehen sogar noch beeindruckender.
Nach acht Stunden intensiver Wanderung kamen wir völlig geschafft auf dem Campingplatz an. Es war bereits gegen fünf und wir hatten beide nicht mehr die Kraft, uns noch großartig zu bewegen. Gegen sieben setzte dann endlich der leichte Regen ein, der Erfrischung brachte. Leider hörte er bis jetzt nicht auf, Montag, 12:30 Uhr. Ganz im Gegenteil, er ist sogar jetzt sehr heftig, so dass wir den Tag bislang im Camper verbringen. Mich stört es nicht, sondern ich genieße die Ruhe und die Tatsache, endlich einmal genau das machen zu können, wonach mir gerade der Sinn steht, ohne wetterunabhängige Verpflichtungen, die ich mir – zugegebenermaßen – selbst aufgebürdet habe. Wir hoffen, dass gegen Nachmittag der Regen aufhört und wir noch eine kleine Talwanderung machen können, vielleicht in die nächste Ortschaft hinein. Morgen soll es in jedem Fall besser werden. Wird auch Zeit, denn die Kampenwand ruft. Und unser Muskelkater sollte dann auch abgeklungen sein.