Stari Bar
Doch wieder Strand. Ich las noch gestern Abend die Beschreibung über den Skadar-See im Rough Guide und hatte die ganze Zeit das Bild des Wannsees vor Augen. Das ging nicht, es kam nicht infrage, dort hinzufahren. Also weiter in Richtung Süden, aber erst musste ich den Camper auf die Abfahrt vorbereiten. Neben mir kampierte eine polnische Familie, sehr stattlich, vier Kinder, dabei schätzte ich sie auch ungefähr mein Alter. Die kleinste war ungefähr vier und um sie drehte sich alles. Anja, die etwas dreijährige, rothaarige, war die einzige Tochter und überall dabei. Die Brüder rissen sich um sie, sie war eindeutig Mittelpunkt des Geschehens. Nicht dass sie es darauf anlegte, da gibt es andere Kinder, die es genießen, im Zentrum des Geschehens zu stehen. Es war einfach natürlich. Es erinnerte mich ein wenig an die Zeit, als ich 13 war und noch eine kleine Schwester bekam. Wir zwei Brüder waren sicher nicht ganz so fürsorglich, aber hätten es sein können. Heute ist meine Schwester 27, geht also stramm auf die 30 zu, unglaublich. Zeit ist etwas Wunderbares, vor allem wenn man sie wahrnimmt und sich die Entwicklung ansieht. Die meisten fürchten sie ja, aber das halte ich für völlig übertrieben. Und wenn man den Mut hat, hinzusehen, werden Scheuklappen fallen und die wundervollsten Dinge kommen zum Vorschein. Zum Beispiel wenn man sich ansieht, wie Menschen wachsen, was aus ihnen wird, den Status Quo von vor einigen Jahren vergleicht, mit dem jetzigen, dann ist es eine der wunderbarsten Dinge der Welt. Trotz einiger Falten. Natürlich gibt es auch die andere Seite, Menschen, die stehen bleiben, aber das sind im Allgemeinen nicht die, die mich interessieren. Bewegung, immer Bewegung, dann wird die Wirkung der Zeit zu einem einzigartigen Erlebnis. Eben ganz so wie bei meiner Schwester, aber das ist eine Geschichte, die ich ein anderes Mal erzählen möchte.
Ich fuhr heute weiter, nach Bar. Wie der Rough Guide beschrieb, ist die neue Stadt ziemlich langweilig, da ich jedoch dringend einige Vorräte brauchte, fuhr ich Richtung Zentrum. Es war wirklich eine seelenlose Angelegenheit, aber der Supermarkt war gut bestückt. Ich hielt mich nicht lange auf, sondern fuhr weiter Richtung Stari Bar, die alte Stadt, die von den Bewohnern für die neue aufgegeben wurde. Und zwar schon im – ich glaube – 19. Jahrhundert. Es wurde zu dem prägendsten Erlebnis in Montenegro.
Stari Bar ist eine Ruinenstadt, ähnlich wie Oppède in Frankreich, das mich damals ebenso beeindruckt hat. Ich habe gerade den Text gelesen, ist das alles wirklich schon zwei Monate her? Unglaublich, wie die Zeit vergeht. Ich schwelge gerade in Erinnerungen.
Jedenfalls hat natürlich jede Stadt seinen eigenen Charakter, auch hier ist es so. Einige Erdbeben und anderweitige, recht ominöse Explosionen haben Stari Bar den Garaus gemacht und es in das verwandelt, was wir heute sehen können: eine zerkrümelnde Stadt, eingestürzte Mauern, Pflanzen zwischen den Steinen und wild-romantische Fantasien. Es ist ein Ort, der Ideen beflügelt. Wie Oppède liegt es auch am Rande der Berge, die sich dahinter aufwallen und es in Szene setzen. Ich zahlte am Eingang einen Obolus von einem Euro Eintritt, und muss gestehen, dass sich Stari Bar unter Wert verkauft. Ein kleines Museum zeigte einige Funde aus der Stadt, die hier seit sicher 2500 Jahren existiert, wenn nicht gar länger. Da es türkisch war, gibt es sogar ein – restauriertes – Bad, außerhalb der Mauern kann man noch die Bögen des Aquädukts sehen, das den Hamam mit Wasser speiste. Ich stolperte erfreut und gespannt in den Ruinen umher, hinter jeder Häuserwand gab es etwas Neues zu entdecken. Die Stufen waren glatt und uneben, ich zog mir sogar einen kleinen Oberschenkelkrampf zu, weil es so anstrengend war, sie zu erklimmen. Von der alten Zitadelle aus hatte ich die wundervollsten Ausblicke auf die Berge und auch das Meer konnte ich sehen.
Ich befürchte, dass der Ort nicht so bleiben wird. Es gibt schon Zeichen einer radikalen Renovierung, denn der Uhrenturm ist restauriert und passt schon nicht mehr in die Ruinenstadt. Auch ein Bischofspalast sieht genauso aus, zwar rustikal, aber helle, viel zu neue Steine verraten ihn. Den Rest Stari Bars haben sie noch nicht erreicht, ich hoffe beinahe, dass es auch nie geschieht.
Irgendwo entdeckte ich einige Feigenbäume. Man riecht sie schon von Weitem, es ist Erntezeit. Also pflückte ich einige Früchte vom Baum. Ich habe noch nie so gute und frische Feigen gegessen. Sie waren nicht zu süß, sondern wiesen eine Spur Säuerlichkeit auf, was ich liebe. Manchmal sind es eben die einfachen Erfahrungen, die einen glücklich machen. Schön war es auch, weil sich kaum ein Tourist hierher verirrt. Ich weiß nicht warum, denn es ist mit Abstand der charmanteste Sightseeing-Ort, den ich bislang in Montenegro gesehen habe.
Ab einem gewissen Punkt setzte mir die Hitze ein wenig zu, allerdings war ich auch schon durch und hatte so ziemlich jeden Winkel erkundet. Zeit also, um meine Fahrt fortzusetzen. Bei Ulcijni gibt es laut Rough Guide mehrere Campingplätze. Einen gibt es wirklich, auf dem bin ich gelandet. Und das Meer und der Strand haben mit mir Frieden geschlossen. Denn ich sitze hier in einer kleinen Bar, die Wellen rauschen und die Sonne geht gerade unter. Kaum ein Mensch ist hier. So macht es Spaß.
Morgen ist mein letzter Tag in Mongtenegro, bevor ich nach Albanien fahre. Beinahe bin ich etwas wehmütig, doch das sind Gefühlsschwankungen. Erst möchte ich den morgigen Tag noch genießen. Vielleicht auch am Strand