Palast des Nestor

Ich hege die berechtige Hoffnung, dass ich ihn gefunden habe. Den Ort, an dem ich etwas ausspannen kann. Zugegeben, er ist eine schöne Strecke entfernt von Olympia, südlicher geht es beinahe schon nicht mehr, aber es klingt verheißungsvoll. Koroni, ich las die Beschreibung im Internet und entschied sofort, dass es das Dorf ist, nachdem ich die ganze Zeit gesucht hatte. Unbewusst natürlich. Gestern Abend noch las ich viele Beschreibungen und es überraschte mich natürlich nicht, dass der Peloponnes angefüllt ist mit interessanten Orten, die ich wahrscheinlich gar nicht alle sehen kann. Auf der anderen Seite spüre ich, wie mir unabänderlich die Zeit im Nacken sitzt. Ich weiß auch nicht warum, aber auf der ganzen Fahrt habe ich so etwas wie ein Ankommen nicht gekannt. Immer nur zeitweise, dann hat „es“ mich weiter getrieben. Was dieses „es“ ist, kann ich nicht sagen, aber es bereitet mir Stress. Der ist zwar meist positiver Natur, teilt mir mit, wann ein Ort sich überlebt hat, aber manchmal geht „es“ mir doch gehörig auf die Nerven. Schon jetzt schreit es mir die ganze Zeit ins Ohr, dass ich mich beeilen soll und dass ich nicht ewig auf der griechischen Halbinsel abhängen kann. Dabei kann davon wohl kaum die Rede sein, denn kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht etwas sehe oder mache. Und dennoch kann ich mich kaum wehren. Es ist die gleiche Stimme, die mich antreibt und mich zum Schreiben (oder Arbeiten in anderen Zeiten) ermahnt, die mir also die Selbstdisziplin gegeben hat, ohne die wahres Schaffen nicht möglich ist. Ob das kreativer Natur oder das simple Malochen für eine andere Firma ist. Also kann ich „es“ nicht bekämpfen, denn es ist Teil meiner selbst, aber verstehen möchte ich „es“. Denn „es“ ist ständiger Unruheherd und auch an Tagen, an denen ich mich eigentlich ausruhen möchte, ist „es“ nie weit. „Es“ ist verantwortlich für viele Streitigkeiten, manchmal mit Nina, noch öfter jedoch in der Vergangenheit mit Menschen, die ich habe führen sollen. Denn die fühlten sich natürlich ebenfalls angetrieben, ohne allerdings diejenige Gewöhnung daran zu haben, die ich seit Jahren aufgebaut habe. Natürlich werde ich den Teufel tun, „es“ zu ignorieren. Wahrscheinlich muss ich ihm sogar noch mehr Spielraum geben, um „es“ voll zu nutzen, denn wenn „es“ ungezügelt ist, weiß nur Gott oder sonst wer, wo es endet. Ich möchte es einmal darauf ankommen lassen, aber erst, wenn ich wieder in Deutschland bin.

Heute also fuhr ich aus Olympia ab, denn der Ort hatte sich eindeutig überlebt. Da Garmin kaum eine Straße in Griechenland kennt, verlasse ich mich seit einigen Tagen wieder auf Landkarten und siehe da, ich komme immer noch an. Meine digitale Demenz ist also etwas zurückgegangen. Natürlich hatte ich die Strecke unterschätzt, wie üblich, wenn es um enge Landstraßen am Meer und durch Gebirge ging. Doch auf diese Weise bekam ich den Peloponnes zu sehen, eine unschätzbar wertvolle Erfahrung. So fuhr ich entlang des Meeres, sah immer auch die Berge, über denen allerdings sehr schwere Wolken hingen, die in allerlei Farben von Grau bis Lila getunkt waren und Gewitter versprachen. Dem fuhr ich allerdings davon, wie ich bald merkte. Ich sah Hügel, auf denen nur noch schwarze Stummel standen, ehemals Bäume, jetzt nur noch verbranntes Holz. Zeugen der Waldbrände, die hier entsetzlich gewütet haben müssen. Allerdings haben sie die vielen Olivenhaine verschont, so zumindest mein Eindruck, denn kilometerweit ziehen sich diese hin, alte, ehrwürdige Bäume, verknöchert und krumm, Jahrhunderte alt und immer noch voller Leben und Saft. Ich glaube nicht, dass es eindrucksvollere Lebewesen auf dieser Welt gibt, unbeugsamere oder vielleicht auch weisere. Wenn sie nur reden könnten. Aber vielleicht ist es besser so, denn sonst würden sie die Mär der Menschheit erzählen, von ihrer Gier und Grausamkeit. Und davon, dass viel zu selten das Gute und Richtige gewinnt.

Ich kam an manchen Ausgrabungsstätten vorbei, die ich alle liegen ließ. Ich kann nicht alles sehen. Plötzlich aber sah ich ein Schild „Nestors Palace“. Das musste ich sehen, denn es soll akribisch und professionell ausgegraben worden sein, anders also als Mykene, auch wenn ich meinem Landsmann Schliemann damit auf die Füße trete, aber es besteht eben ein Unterschied zwischen Archäologie und Schatzsucherei.
Hier war er also, der Palast des Nestor, des weisen Beraters des Agamemnon. Auch wenn es nicht viel genutzt hat, wenn man die Torheiten betrachtet, die der mykenische König trotzdem begangen hat. Dass er sich mit einem eitlen Faun wie Achilles angelegt hat, kann ich noch verstehen, aber dass er seiner heimtückischen Frau vertraute, war der Gipfel der Narrheiten. Die ihn ja bekanntlich das Leben gekostet haben. Aber zurück zu Nestor. Der Palast auf einem Hügel ist wirklich akribisch ausgegraben, es stehen nach Tausenden von Jahren immerhin noch die Grundmauern, so dass man durch die Korridore und Räume gehen kann. Die Aussicht aufs Meer und die Berge von hier aus ist malerisch und ich kann mir vorstellen, dass ein König allein deshalb einen solchen Ort für seinen Sitz wählte. Witzigerweise ist hier eine Wanne gefunden worden. Witzig deshalb, weil Homer in seinen Erzählungen erwähnt, dass der Sohn des Odysseus, Telemachos, Nestor besucht, um ihn zu dem Verbleib seines Vaters zu befragen. Dieser bietet ihm erst einmal ein entspannendes Bad an, seine Tochter Polykaste, deren Schönheit gottgleich gewesen sein soll, hat ihm dabei geholfen. Sehr entspannend, wirklich. Die Wanne ist zu sehen und mit ein bisschen Fantasie kann man sich die Szene auch vorstellen. Ich jedenfalls musste gehörig schmunzeln.

Neben dem Palast steht ein restaurierter mykenischer Grabhügel, der allerdings etwas zu perfekt aussieht für ein Jahrtausende altes Bauwerk. Dennoch, man bekommt eine Idee von der Grandiosität dieser Kultur, die uns durch Homer so nahe scheint, als ob sie erst gestern untergegangen wäre. Was zwei Bücher alles anrichten können.
Es war eine kulturelle Unterbrechung meiner Reise, die sich wirklich gelohnt hat. Denn erfrischt wie selten setzte ich meinen Weg fort, durchquerte Pyla und Mathoni und landete bald darauf auf dem – etwas teuren – Campingplatz hier in Koroni. Das Dorf kann ich zwar von hier aus sehen, habe es aber noch nicht besucht. Ich mache es heute Abend. Es ist der perfekte Ort, um mich von der Krankheit zu erholen, die ich endgültig besiegt zu haben scheine. Mehr als eine Woche habe ich mich herumgequält, das reicht auch. Jetzt also bin ich angekommen. „Es“ ist ziemlich still.