Venedig

60. Das ist die Zahl der Mückenstiche, die ich heute Morgen grob schätzte. Wenn ich noch einen Rest an Zweifeln gehabt hatte, ob ich nicht doch noch einen Tag länger hätte bleiben sollen, hat mich die Realität praktisch ausgestochen. Wenn man mir in den nächsten Tagen blutleere Texte vorwerfen sollte, dann wäre es der natürliche Gang der Dinge.

Etwa 100 Kilometer weit wollte ich fahren, unspektakulär fuhr ich vor mich hin und ich kam schnell voran, auf breiten Straßen, engen Alleen, an Flüssen entlang – Italien zeigte sich von einer Seite, die ich noch nicht kannte.
Den ersten Preisschock bekam ich, als ich die Preistafel auf dem Campingplatz sah. Der Tagespreis betrug fast das doppelte, was mein eigentliches Budget von 15 Euro die Nacht betragen durfte. Auch wurde ich so schnell wie noch nie vom Rezeptionisten abgefertigt, ich merkte also, dass ich in einer der begehrtesten kulturellen Stätten der Welt angekommen war. Früher hätte ich mich sofort aufgemacht, weil ich es nicht hätte abwarten können, ein solches Juwel anzuschauen. Heute ist es anders, vielleicht weil ich schon das vierte Mal da bin, vielleicht aber auch, weil ich weiß, dass ich nie mehr als vier bis fünf Stunden Sightseeing ertrage und dass es auch noch reicht, wenn ich um 15 Uhr losgehe. Die Hitze ist dann zwar noch auf dem Höhepunkt, doch sinken die Temperaturen im Laufe meines Besuchs. Genau so war es, ich hatte also Zeit, an meiner gotischen Geschichte zu schreiben und zu lunchen, bevor ich nach Venedig aufbrach. Der Bus hielt direkt vor dem Campingplatz und brachte mich zum Piazzale Roma, wo jede Venedigreise beginnt, wenn man mit dem Auto anreist. Bevor wir die verheißungsvolle Stadt erreichten, mussten wir wie immer durch ein Dickicht aus monströsen Fabrik- und industriellen Hafenanlagen, in der Luft hing ein fauliger Geruch, deren Existenz ich sofort nach jeder Abreise aus Venedig – gütiger Weise – vergesse. Seelenlose Vorstädte, eine davon mit dem ausdrucksvollen Namen „Malcontenta“, lassen mich immer wundern, in welche Hässlichkeit die Lagunenstadt eingepackt ist. Doch das Durchhalten bei der Anreise lohnt sich.

Seit meinem letzten Besuch vor fünf Jahren hat sich nicht viel verändert, noch immer empfängt einen der Ort mit viel Trubel, den Tausende von Touristen entfachen.
Venedig ist ein erstaunlicher Ort. In Italien muss es sich gegen eine Konkurrenz von höchster Qualität durchsetzen, denn nirgends sonst in der Welt gibt es eine solche Häufung von bildschönen Dörfern und Städten, nirgends sonst gibt es so viele Kunstschätze wie hier. Und doch ist nichts wie Venedig, diese Lagunenstadt, die so viele Jahrhunderte dank des ausgeprägten Handelstalents ihrer Kaufleute und Politiker die Geschicke Europas mitbestimmt hat. Eine Stadt auch, die eigentlich gar nicht existieren dürfte, auf Holzpfählen gebaute Paläste und Straßen, mitten am Meer, den Gewalten der Natur ausgesetzt. Und doch ist sie da, die alte Dame, trotzt allem, was sich ihr entgegen geworfen hat, ob es die Türken oder die Habsburger waren, Unwetter oder Stürme.

Dass hier alles anders läuft als sonst, selbst für italienische Verhältnisse, versteht sich von selbst. Hier gibt es keine Hochsaison mehr, keine Nebensaison, hier ist das ganze Jahr über Party. Preise gehen ins Astronomische, und doch kann auch ich mich der Anziehungskraft Venedigs nie entziehen. Bis vor zwei Tagen hatte ich nicht geplant, überhaupt herzukommen, gestern dann suchte ich wie selbstverständlich einen Campingplatz aus und da bin ich nun. Schon als ich ankam, bemerkte ich es wieder, sie sind fett und arrogant, wie sie nur sein können, wenn sie wissen, dass es überhaupt nichts ausmacht, ob man nochmals wiederkommt oder nicht. Sie kämpfen nicht um dich, sondern du wirst abgefertigt und musst mit dem vorlieb nehmen, was sie dir geben. Es spielt keine Rolle, ob sie nett zu dir sind, sie müssen es nicht. Auch das gehört zum Venedigbesuch dazu, ich habe es vor zwölf Jahren erlebt, als ich das erste Mal da war. Damals hat es mich geärgert, heute weiß ich, dass es dazugehört. Macht ja auch nichts.

Also lief ich gut gelaunt los, einen Plan habe ich mir nicht geben lassen, warum auch. Binnen einer Minute wusste ich traditionell sowieso nicht mehr, wo ich war, da machte es nichts weiter aus. Ich liebe es, mich hier treiben zu lassen. Zumal das immer der schönste Teil des Besuchs ist, weil sich anscheinend die Touristen alle zwischen der Rialto-Brücke und dem Piazza San Marco aufhalten. Aber auf dem Weg vom Piazalle Roma aus verlieren sich die Horden. Hier hat Venedig eine verruchte Atmosphäre, es riecht nach fauligem Holz und Brackwasser, der Putz der alten Häuser und Paläste bröckelt, das Wasser versucht – wie seit Jahrhunderten verzweifelt – an der Stadt zu nagen. Es kommt sogar manchmal vor, dass man einige Gassen oder Brücken ganz für sich allein hat. Deshalb mag ich es so, mich hier, och weit vor der Rialto-Brücke – einfach treiben zu lassen. Irgendwann geschieht es dann, man kommt zwangsläufig an der Brücke an. Ab diesem Zeitpunkt verfliegt der Zauber. Tausende von Touristen säumen dann die Gassen und Brücken, das Angebot der Geschäfte ist nur dazu da, jedes Bedürfnis für jeden Geldbeutel zu befriedigen. Denn es kommt auch jeder her, vom amerikanischen Backpacker bis hin zum japanischen Multimillionär. Also reicht das Angebot von billigen Karnevalsmasken aus Asien bis hin zu teuren Designeruhren. Überall gibt es typisch venezianisches Mandel-Gebäck. Den Fehler, es zu probieren, hatte ich bereits vor neun Jahren gemacht. Man, lag das Zeug schwer im Magen. Fastfood-Pizza, Trattorien, Edelrestaurants – hier gibt es alles, um auch den letzten Euro der Touristen abzugreifen. Besonders schlimm wird es um den Piazza San Marco herum, dort würde ich nicht einmal im Stehen einen Espresso trinken. Hier fließen die Touristenströme zusammen, kein Wunder, Seufzerbrücke, Dogenpalast, Kathedrale, Campanille, Dutzende Gondeln, das sind nun einmal die Wahrzeichen der Stadt.

Ich hatte sicher zwei Stunden gebraucht, um herzukommen, doch blieb ich letztlich nur wenige Minuten, denn es geht sehr auf die Nerven, die Ausstrahlungen von Tausenden Menschen zu ertragen. Ich zog mich also wieder ein bisschen zurück, sitze jetzt am Canale Grande, dem vielleicht eindrucksvollsten Monument Venedigs und höre dem Wasser zu, das leise gegen einen Steg plätschert. Gegenüber sind einige grandiose Häuser, vielleicht Paläste, wer weiß das schon. Und es ist ruhig, nur einige ruheliebende Touristen erfreuen sich wie ich an dem Szenario. Es ist ein perfekter Ort zum Schreiben, ein perfekter Augenblick zum Genießen. So gefällt mir Venedig.

Ich lief am Ende wieder in den ruhigen Zonen und es wunderte mich immer wieder, dass dieser Teil Venedigs als bloße Durchgangsstation gesehen wird, denn kaum jemand hält sich hier länger auf. Dabei gibt es so vieles zu sehen, oft winzige Details, oder man kann Stunden damit verbringen, die Häuser, von denen keines einem anderen gleicht, anzuschauen. Ich zum Beispiel machte mir den Spaß und verglich Fenster. Maurische Spitzbögen, romanisch-nachgestellte Rundbögen, gotische, etwas weniger spitze Bögen – ich hatte meinen Spaß, dazu die Farben der Häuser, die immer variieren. Oft sind kleine Skulpturen in die Fassade eingearbeitet, manchmal alte Wappen, die von den Besitzern herrührten, die schon seit Langem nicht mehr hier wohnen. Zumindest nehme ich das an.

Ein Platz – ich hatte ihn bereits vergessen -hat es mir besonders angetan: Campo S. Giacomo Da L’Orio. Er könnte auch in Siena oder Lucca liegen oder einer anderen toskanischen Stadt. Von Kanälen keine Spur. Er ist groß angelegt, seine Seiten flankieren drei- bis vierstöckige Gebäude in Erdfarben, dazu eine verwitterte Kirche. Der Platz war fast leer, vielleicht ein halbes Dutzend Touristen und ein Dutzend Einheimische verloren sich hier. Ein perfekter Ort in einer sonst panisch-verrückten Stadt. Was mich wundert, ist die Tatsache, dass so viele einfach an diesem Platz vorbei gehen, er liegt nämlich genau auf der Hauptstrecke zwischen Piazzale Roma und Piazza San Marco. Mir kann es recht sein, denn ich habe den Ort zu meinem persönlichen Venedig erkoren, auf dem ich nur Wenige dulde. Ich verweilte eine Weile, das Abendlicht, das immer noch intensiv, aber eine Spur röter schien, leuchtete jede Ecke aus und ließ die Häuser noch malerischer erstrahlen.

Jetzt genug mit dem Kitsch. Die Busfahrt zurück war eine Erfahrung der besonderen Art. Sicher an die Hundert Personen drängten sich bei der Hitze in dem Bus, den Geruchspegel kann man sich vorstellen, eine Beleidigung selbst für die hartgesottenste Nase. Wie stellt man es an, diesen Sinn auszuschalten? Man kann sich die Ohren zuhalten oder Wegschauen. Aber die Nase zuhalten scheint mir gesellschaftlich auf einer anderen Ebene.
Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lang.
Der Abend war sehr warm und alte Bekannte waren zurück: Mücken, die wieder ein Herz an mir gefressen hatten.
Mistviecher.