Sierra Espuna
Bis vor einer Stunde habe ich diesen Tag noch verflucht, hatte ihn abgehakt und keine Lust mehr darauf, ihn in irgendeiner Form noch positiv zu nutzen. Wie schnell sich allerdings eine Situation ändern kann und wie sehr uns das Leben doch in die richtige Richtung drängt, erlebe ich jetzt, denn es ist mir vergönnt, meine abstrusen Entscheidungen, die ich wie gesagt bis vor einer Stunde noch für völligen Blödsinn gehalten habe, als das zu sehen, was sie waren: Als Schritt in die Richtung, in die ich gehen wollte. Doch es nicht wusste.
Ich greife etwas vor, denn gestern hatte ich noch einen erlebnisreichen Nachmittag. Den Leuchtturm habe ich zwar nicht erreicht, doch mein Strandspaziergang in Richtung La Almadraba führte mich zumindest nah an ihn heran. Es sah alles so nah aus, doch je weiter ich lief, desto mehr wurde mir bewusst, dass es ein weiter Weg werden würde. Am Ende kann ich nicht einmal sagen, wie weit es wirklich war, denn die Schrittgeschwindigkeit im Sand ist um vielfaches langsamer als auf normalem Untergrund. Das war aber nicht wichtig, denn das Meer plätscherte neben mir, einige Fischer warfen bereits ihre Schnüre ins Wasser, während ich an ihnen vorbei knirschte. Der Sand ist in Cabo de Gatta eher grob und dunkel, mir macht so etwas gar nichts, er muss ja nicht immer weiß und fein sein. Die Berge, die ich eigentlich erreichen wollte, kamen nur langsam näher, ich stapfte weiter, erfreute mich an der frischen Brise und der friedlichen Umgebung. Eine längst verlassene Kirche, die im Verfall begriffen ist, erweckte meine Aufmerksamkeit. Das Meer hat eine Art, Dinge schnell altern zu lassen. Ich glaube, das gilt für Bauwerke, Autos und auch Lebewesen. Alle bekommen durch die Nähe zur See eine gewisse Ausstrahlung, Alterserscheinungen, die nur die salzige Luft, der zerreißende Wind und die unbarmherzige Sonne erzeugen können. Die Kirche hat diese Ausstrahlung, längst verfallen und zugemauert, doch Zeugnis für die Nähe zum Meer. In der Gegend ist früher Salz gewonnen worden, die Arbeiter haben hier gebetet. Also scheint es mir völlig richtig, dass das Meer sie jetzt so herrichtet, wie es nur das Meer vermag. Als ich die Kirche erreicht hatte, merkte ich langsam, dass ich allmählich müder wurde. Nur ein Narr läuft auch ohne Wasser los. Und ein Narr bin ich also zweifelsohne. Meine Kehle war so trocken, dass ich beinahe Staub hustete. Zum Glück war am Ende dieses Weges der winziger Ort La Almadraba mit einer kleinen Bar. Die Cola, die ich hier bekam, gehörte zu den besten in meinem Leben. Sie war so schnell verdunstet, dass ich beinahe noch eine zweite bestellte, doch hielt ich Maß und zügelte mich. Zu viel Luxus verdirbt den Charakter. Der Leuchtturm konnte nur noch wenige Kilometer vor mir liegen, doch da es bereits langsam dämmerte, machte ich mich auf den Rückweg. Der Strand erstreckte sich endlos vor mir und ich erfreute mich an jedem Meter, auch wenn es beinahe unzählige gewesen sein mögen. Am Ende kam ich weit nach halb Neun auf dem Campingplatz an, kochte noch eine frische Paella und ließ den Tag mit einem Glas Wein ausklingen. Das ist eigentlich immer eine gute Idee.
Heute früh brach ich recht zeitig auf, schon vor zehn Uhr machte ich mich auf den Weg nach Cartagena. Mein Ziel war ein FKK-Campingplatz, er schien mir eine gute Wahl, da er recht nah an der Stadt liegt und außerdem über einige Wellnessangebote verfügt. Aus irgendeinem Grund streckte sich die Fahrt fürchterlich in die Länge, eine ausgedehnte Pause stellte sich als stressreicher heraus, als sie hätte sein sollen, denn ich suchte relativ verzweifelt nach einer Möglichkeit, eine Email mit einem Foto des Belegs des verlorenen marokkanischen Pakets zu schicken. Vergeblich, denn ich fand keine Bar, die außer Kaffee ebenfalls Wifi anbot. Wenigstens hatte ich genug Koffein intus, um meine Fahrt fortzusetzen. Garmin spielte mir danach so manchen Streich, obwohl mein treues Terrainwunder nichts dafür konnte, dass die Straße über die Berge zwischen Mazarrón und Campingplatz gesperrt war. Für die Auswahl an winzigsten Pisten jedoch mache ich Garmin schon verantwortlich, quälend langsam und vorsichtig wand sich die Transe auf engsten Wegen zum Ziel, nahm dabei den einen oder anderen Distelstrauch mit, deren Reste ich jetzt aus den Radkästen hervorziehen darf. Als ich endlich doch vor den Toren des Campingplatzes stand, wurde mir nur eine, alles entscheidende Frage gestellt: „Haben Sie eine Karte vom FKK-Verein?“ Oder so ähnlich. Jedenfalls verfüge ich über keine Karte, aber über einen wundervollen Astralkörper, der jedes FKK-Gelände hundertprozentig aufwertet. Doch das war nicht das Kriterium, also wurde ich relativ schroff abgewiesen, ich solle mich zu einem „normalen“ Campingplatz bewegen. Damit war ich ziemlich bedient, um nicht zu sagen wütend, denn weder der ADAC- noch der Acsi-Führer erwähnen die Obligation einer solchen Karte. Da, wo man mich nicht haben will, bleibe ich auch nicht und somit ist Cartagena von der Reiseroute gestrichen.
Es war schon später Nachmittag, als ich mich wieder aufmachte. An ein Zurückfahren nach Mazarrón war nicht zu denken, einen weiteren Tag an einem langweiligen Strand ohne kulturelle Umgebung war nicht zu denken. Die nächste Alternative lag in den Bergen der Sierra Espuna. Ich war immer noch ausgesprochen geladen und die anstrengende Fahrt über Totana ließ meine Laune nicht besser werden. Dabei hätte ich aufregende Aussichten genießen können, während ich mich immer höher schraubte, doch in meinem Brast war mir das alles egal.
Dann jedoch kam ich auf dem Campingplatz an, wurde so freundlich aufgenommen, wie man es sich vorstellen kann. Binnen Minuten war ich mit dem hauseigenen Wifi verbunden und hatte meine Email abgeschickt, alles war zurechtgerückt und ich wusste, dass ich an genau dem Ort angekommen war, an dem ich heute sein sollte. Um das zu verstehen, war dazu eben der Umweg nötig, aber jetzt ist es gut, wie es ist. Ich werde sicher morgen hier bleiben und wandern, vielleicht sogar noch einen Tag länger. Auf diese Weise war am Ende alles gut und ich habe gelernt, dass man manchmal eben noch mehr Geduld haben muss. Das Schicksal wird schon machen, was richtig ist. Und mein Instinkt ist dabei fast immer unfehlbar. Heute zumindest hat er mich scheinbar unsichtbar geleitet. Denn rational kann ich meine Entscheidungen nicht verstehen. Aber das muss ich auch nicht immer.