Cervarezza

Der gestrige Tag war schlimm, denn noch nie in meinem ganzen Leben haben mich Schmerzen derart unbeweglich gemacht. Selbst kurze Strecken zu Fuß trieben mir den Schweiß auf die Stirn und das lag nicht an der Hitze, die sich sehr zurückgehalten hat. Selbst kleine Bewegungen wurden zur Qual, Sitzen, Stehen, Liegen, nichts brachte die Rückenmuskulatur dazu, sich zu entspannen. Sie fühlte sich an wie eine einzige Wunde, selbst in meiner Bauch- und Brustmuskulatur verspürte ich die Verspannung.
Trotzdem versuchte ich diesen Zustand so gut es ging zu ignorieren, doch als ich abends den Weg ins Dorf antrat, merkte ich, was für eine Anstrengung ich mir zugemutet hatte. Schweißgebadet kam ich in der Bar an, ein Glas Chianti half etwas über den erlittenen Flüssigkeitsverlust hinweg. Es war Endspielzeit. Ich war einer der Ersten, doch um Punkt halb neun strömte das halbe Dorf in die Bar, vorwiegend alte Männer mit einer Aura des weltmännischen Fußballwissens. Kaum eine Aktion des Spiels blieb unkommentiert. Dabei haben diese Strolche die Seiten gewechselt. Jetzt waren sie nicht mehr für die Spanier, die Niederländer hatten alle Sympathien auf ihrer Seite. Ich frage mich, ob es eine europäische Sympathie – Hierarchie gibt. Wenn ja, liegen wir Deutschen sicher ganz weit unten – trotz Lena Mayer-Sowieso. Ich lehnte mich also zurück und sah ein recht typisches Endspiel, musste einmal mehr daran denken, dass wie vor vier Jahren auch das Spiel um den dritten Platz wesentlich spannender und besser gewesen war. Sehr spät in der Verlängerung taten die Spanier dann das, was sie schon gegen die meisten ihrer Gegner bewerkstelligt hatten: Sie schossen ein Tor. Das war es dann, wieder einmal zogen die armen Niederländer den kürzeren. Allerdings nicht ganz zu unrecht, denn wenn ich richtig gezählt habe, war die ganze Mannschaft innerhalb der 120 Minuten verwarnt worden, eine rote Karte und etliche rüde Fouls, die hart an der Grenze zur Körperverletzung waren, ließen eigentlich nur einen fairen Sieger zu. Also war es ganz richtig so, Glückwunsch nach Spanien.

Der Weg nach oben zum Camper ging besser, vielleicht weil ich den starken Rotwein im Kopf hatte. Es war eine herrliche Nacht, die Sterne waren zahlreicher, leuchteten weit. Dazu kamen Hunderte von Glühwürmchen auf der Erde, die es ihnen gleich taten. Ein Wahnsinssspektakel hier, auf beinahe 1000 Metern Höhe.
Ich beschloss, diese Nacht ohne Matratze zu schlafen, in der Hoffnung, durch gesunde Härte meinen Rücken wieder gerade zu biegen. Man, man, man. Eine Zellenpritsche muss angenehmer sein, kommt vielleicht darauf an wo, aber das war eine Zumutung, eine selbst auferlegte. Bei jeder Drehung stieß ich mir die Knochen, meinem Rücken ging es letztlich auch nicht besser. Wenigstens schaffte ich es, mit nicht all zu großen Schmerzen aufzustehen und je mehr ich mich bewegte, desto besser wurde es. Es ist zwar noch nicht vorbei, aber bis morgen werde ich durchhalten, dann kaufe ich schlichtweg eine neue Matratze, koste es was es wolle.

Der Tag heute begann wundervoll, die Sonne schien, es war nicht zu heiß. Nachdem ich meine Geschichte vorangetrieben hatte, beschloss ich, wandern zu gehen, deshalb war ich schließlich da. Ich lief an der Rezeption vorbei, wo ich mit dem Chef des Platzes ein kleines Schwätzchen hielt. Es ging ums Wetter, wobei es mehr als Small-Talk war. Ich fragte ihn, ob er meine, dass es regnen würde.
„Noo, doon’t thiiink sooo.“
Dann erklärte er mir in aller Ausführlichkeit, wie der Regen hier funktioniert, von Cumulus-Wolken war die Rede und leisem Gegrummel im Hintergrund. Sollte ich das vernehmen, empfahl er mir, müsste ich mich sofort auf den Rückweg begeben.
Bislang war das alles akademisch und hypothetisch. Ich erzählte ihm von den Unwettern im Lake District in Cumbria, er von den überraschenden Wolkenbrüchen, die hier ab und an vorkamen.
Die Sonne schien unablässig.
Also lief ich irgendwann los. Die breiten Wege machten es mir leicht, die Wahl meiner Trekking-Sandalen für leichte Touren schien gerechtfertigt.
Ein hübscher Weg, fast immer durch den Wald, im Schatten, leicht bergauf, aber nicht zu sehr.

Die Sonne schien. Kleine Wölkchen sorgten für noch mehr Schatten.
Bald darauf sah ich den Berg, den ich heute zu umkreisen gedachte. Ich fragte mich, ob mein Weg mich ganz nach oben führen würde, dann wäre es eine zumindest etwas ansprechende Tour.
Ich schaute nach oben, da schien die Sonne nicht mehr. Eine dunkle Wolke hatte sich gebildet, plötzlich, direkt über mir, krachte es gewaltig. Ich weiß nicht, wie das Gewitter es geschafft hatte, sich so leise anzupirschen. Da bekam ich auch schon den ersten Tropfen ab. Natürlich hatte ich wie immer eine Regenjacke dabei, eine leichte für kleine Huschen, die legte ich sofort an. Keine Minute zu früh, denn jetzt brach es los. Es war nicht nur Regen, sondern Hagel, die Körner sicher einige Millimeter im Durchmesser. Am Anfang dachte ich darüber nach, mich unterzustellen, doch entschied ich mich dagegen. Im Grunde war ich nicht so weit weg vom Platz, vielleicht eine halbe Stunde. Ich lief zügig, der Regen nahm zu. Binnen kurzer Zeit war meine Hose völlig durchnässt, die Regenjacke ging mir bis zur Hüfte, das ablaufende Wasser wurde nun vollständig vom Stoff aufgesogen. Ich merkte, wie kalt es sein kann, wenn man eine nasse Hose trägt. Interessant, ich hatte es fast vergessen. Die Sandalen stellten sich letztlich als schlechteste Wahl des Schuhwerks heraus, ich schwappte in ihnen hin und her, so rechten Halt wollte ich nicht darin finden. Sind eben Schönwetter-Schuhe, ungeeignet für den Apennin. An Unterstellen war nicht mehr zu denken, es war inzwischen auch egal, denn kaum ein Zentimeter, der nicht sich noch nicht mit Wasser vollgesogen hätte.

Ich nahm es inzwischen mit Humor, beinahe hätte mich mein Ausflug jedoch mein Handy gekostet, dass sich in meiner Hosentasche hinten langsam in die Reklamausgabe von Mark Aurels Selbstbetrachtungen einwickelte. Beides konnte ich gerade noch retten.
Somit fiel auch der zweite Tag in Folge ins Wasser und ich fahre definitiv morgen weiter. Es reicht auch langsam, vier Tage an einem Ort sind fast schon mehr als ich ertragen kann. Außer natürlich ich halte mich in Barcelona auf. Tue ich aber nicht, Mein nächstes Ziel morgen ist Ferrara, das schon näher an der Adria-Küste als am Etrurischen Meer liegt. Sehr bald bin ich am Scheitelpunkt meiner Reise und immer noch nicht sicher, welche Route ich nehmen werde. Es wäre ein Jammer, nicht nach Triest zu fahren, aber vielleicht mache ich einen Umweg. Ich werde das Mal wieder auf mich wirken lassen.