Rom

Und wieder waren es eisige Temperaturen in der Nacht. Ich entschuldige mich für diese ständige Wiederholung, aber das bestimmt nun einmal mein derzeitiges Leben. Im Camper zu schlafen, bedeutet, noch mehr als sonst dem Rhythmus der Natur zu gehorchen. Und das möchte ich eben auch beschrieben, denn es gehört einfach mit dazu.

Dennoch war es ein wundervoller Morgen. Die Sonne schien und ich freute mich auf Rom. Beinahe wie ein Kind, obwohl ich auch die Rolle des Erwachsenen mit übernahm, denn ich zwang mich, unangenehme Dinge wie den Abwasch und Morgentoilette nicht aufzuschieben. Am liebsten wäre ich sofort um acht losgefahren, somit wurde es neun. Alles funktionierte bestens. Der Bus kam sofort, ebenso die Metro, so dass ich innerhalb einer halben Stunde am Piazza del Popolo aussteigen konnte. Hier war ich also wieder. Vor genau zwei Jahren hatte ich Rom das letzte Mal besucht, damals um für einen Roman zu recherchieren. Damals wie heute präsentierte sich meine Geliebte ohne Schmuck oder Make-up, einfach so, wie sie ist. Sie ist reifer als ich, weiß mehr, hat mehr Falten, doch von ihrem Charme muss ich mich einfach jedes Mal aufs Neue einwickeln lassen.

Ich sah auf den Obelisken und fragte mich, ob ich irgendetwas Bestimmtes machen wollte. Aber ich konnte mich nicht zu einer Entscheidung durchringen. Nach der langen Zeit der Trennung wollte ich einfach nur wieder da sein, mit ihr zusammen Zeit verbringen. So also lief ich einfach drauf los. Und das volle sechs Stunden lang. Ich kann es eigentlich nicht als Laufen betrachten, denn es war eher ein Dahinschlendern. Langsam und bedächtig, das mir sonst eigentlich gar nicht liegt. Aber hier musste ich das machen. Ich merkte, dass ich Rom gut genug kenne, um ohne Karte auszukommen. Und wenn ich einmal nicht wusste, wo ich genau war, war es mir auch egal. Es ging einfach immer weiter. Als Erstes passierte ich den Trevi-Brunnen, bei dem mir nicht viel einfällt. Es ist eine fürchterliche, touristische Ecke, der Brunnen gefällt mir nicht besonders. Trotzdem werde ich sicher wieder ein Geldstück hineinwerfen. Sicher ist sicher. Heute jedoch ignorierte ich ihn, lief einfach weiter.

In Rom entdecke ich immer etwas Neues. Man muss langsam gehen, weil man sonst Dinge übersieht. Wie eine echte Geliebte gibt Rom niemals alle Geheimnisse preis. Man muss sich bemühen, genau hinschauen, zwischen den Zeilen lesen. Sonst entgehen sie einem, die größten Geheimnisse. Heute entdeckte ich ein Plakat auf dem Piazza Colomna, das mich auf eine Ausstellung im Gebäude mit den antiken Säulen hinwies, von dem ich im Augenblick nicht weiß, wie es heißt, das ich sonst nur von außen kenne. Die Ausstellung, Schmuck in burlesquem Stil, was auch immer das bedeutet, interessierte mich nicht besonders. Aber ich nahm die Gelegenheit wahr, mir das Gebäude von innen anzusehen. Besonders die Außenmauern, die hier freigelegt sind und die zerbröckelten und erodierten, uralten Steine zeigen. Und wieder hatte ich ein Stück antikes Rom entdeckt. (Anmerkung ein Jahr später: Heute weiß ich, dass es sich um das Hadrianeum handelte, also einen antiken Tempel aus dem Jahr 145 n. Chr.)

Dann stand ich plötzlich vor dem Pantheon. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich mag diesen Tempel, kenne ihn auch gut, aber hatte heute keine Lust, hineinzugehen. Vielleicht morgen. Stattdessen wärmte ich mich ein wenig in der Sonne, die wieder einmal auftauchte. Meist versteckte sie sich jetzt hinter den Wolken.
Auf dem Piazza Navona war Weihnachtsmarkt. Ich musste an ein Stück von Jaques Brel, La Foire, denken. La musique bête…. und so weiter. Komische Musik gehört immer zu solchen Veranstaltungen. Ich wanderte den Platz einmal ab, sah mir die Buden an und bin froh, dem Wahnsinn der Weihnachtsmärkte in Berlin entkommen zu sein, der jedes Jahr früher zu beginnen scheint. Bald fangen wir im Juli an, Glühwein zu saufen. Allerdings, wenn es mit den Wintern so weiter geht, können wir das temperaturtechnisch auch.

Der Piazza Navona beschreibt den ehemaligen Verlauf eines antiken Zirkus für Wagenrennen. Wahrscheinlich stehen sämtliche Häuser hier auf imperialen Fundamenten. In jedem Fall ist am Westende des Platzes noch ein Stück Mauer und, wie ich glaube, ein Eingang vorhanden. Viele Meter unterhalb des heutigen Straßenniveaus sind die alten Gebäudeteile sichtbar, als hätte ihnen die Zeit nichts ausgemacht. So etwas begegnet einem in Rom überall. Deshalb liebe ich es so sehr. Es sind die Details, auf die man achten muss. Ein Hof oder ein Stein, der irgendwo hinausragt, alles hat eine Geschichte.

Eigentlich wollte ich jetzt zum Piazza dei Fiori, aber ich fand ihn nicht. Manchmal ist sie eben auch zickig und will nicht. Stattdessen lief ich auf der Via de Coronari entlang, betrachtete dort die Schaufenster und die vielen Antiquitäten. Manches kann ich mir durchaus in unserer riesigen Altbauwohnung vorstellen. Am Ende aber werde ich es mir nie leisten können. Das Witzige daran ist, dass es mir völlig egal ist. Zwar würde es gut passen, aber noch besser passt der Raum selbst, den man nicht mit allerlei altem Murks zustellen muss. Obwohl, ein ungewöhnlicher Artdeco-Schreibtisch hätte mir schon gefallen. Aber eigentlich passt er nirgends hin, denn er war zwar interessant, aber auch potthässlich. Vielleicht fotografiere ich ihn morgen, dann ist es besser verständlich.

Irgendwann kam ich doch noch auf dem Piazza dei Fiori an. Wenn ich irgendwann einmal genug Geld haben sollte, um mir im Zentrum Roms eine Wohnung zu leisten, würde ich sie in den verruchten Straßen um diesen Platz herum suchen. Sie haben so etwas Unbeschreibliches, ein abgeblättertes Flair. Ich stelle mir immer vor, dass man hier im Mittelalter herkam, um seinen Spaß zu haben. War natürlich nicht ungefährlich. Wahrscheinlich ist es nur so eine Fantasie.
Es war bereits halb eins, somit erwischte ich gerade noch den täglichen Markt. Wie in Frankreich bin ich immer erstaunt über die Auswahl an Lebensmitteln. Käse, Wurst, Gemüse, Obst – alles in guter Qualität. Ich schaute mir einen Stand besonders an, Trüffel faszinieren mich. Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Essen in unserer Wohnung in Berlin ein Trüffelomlett zu machen. Muss doch mal sein, oder?

Meine Beine wollten kaum noch. Außerdem bezog sich der Himmel bedrohlich, also ging ich einen Espresso trinken. Gerade als ich die Bar betrat, begann es zu schütten. Ich blieb eine Weile, machte aber den Fehler, mich nicht zu setzen. Ich bereue es jetzt, Stunden später. Denn auch das Schlendern braucht Kraft.
Als ich die Bar wieder verließ, war es spürbar kälter geworden. Zum Glück hatte ich Schal und Handschuhe dabei, so wurde ich nicht auf dem falschen Fuß erwischt.
Den Fluss hatte ich noch nicht begrüßt. Er war ganz schön wild. Das Wasser floss höher als sonst, die Flanierpassagen am Ufer standen Land unter. Die braune Soße raste an den Brücken vorbei, so hoch hatte ich den Tiber noch nie gesehen. Meist ist es ein Rinnsal, kaum zu beachten. Nicht heute.
Da ich nun einmal schon hier war, schaute ich mir noch Trastevere an. Das war einmal der Geheimtipp in Rom, ist aber schon an die 20 Jahre her. Als ich vor 16 Jahren das erste Mal hier war, hatte der Hype schon begonnen. Heute ist es wie der Prenzlauer Berg in Berlin. Hippe Geschäfte, teure Restaurants, Bio-Tussen mit ihren Warmdusch-Mackern und den dazugehörigen Arschloch-Kindern in den Ferrari-Buggies. Wie im Prenzlauer Berg. Trotzdem hat das Viertel noch viel Flair. Die engen Gassen und die kaum renovierten Häuser haben ihn erhalten. Hier aber merkte ich das erste Mal, dass ich vielleicht doch eine Pause machen sollte. Ich hatte mir vorgenommen, etwas zu schreiben, konnte mich aber nicht überwinden. Wieder ein Fehler. Ein körperlicher und geistiger. Die Pause hätte mir physisch gutgetan, mental wäre ich gefordert gewesen. So ließ ich es.

Die Tiberinsel ist auch ein Höhepunkt, ich besuche sie immer, wenn ich hier bin. Sie ist das Kernstück des antiken Roms, Jahrtausende bewohnt, lange vor der Republik und der Cäsaren. Es ist, als ob man Millionen Stimmen hört, all die Menschen, die hier jemals vorbeigekommen sind. Es sind eine ganze Menge. Ich betrachtete heute besonders die Brücken, die ich bislang bei meinen Besuchen vernachlässigt hatte. Es sind nicht mehr die antiken Gebäude aus dem ersten Jahrhundert, denn die Brücken wurden im letzten Jahrhundert erneuert. Aber die Steine haben sie wieder verwendet, so dass sie sehr alt aussehen.
Dann entdeckte ich wieder etwas Neues. Das Portal der Oktavia. Hier war ich anscheinend noch nie oder habe es nicht gesehen. Ein prächtiges antikes Portal, gebaut von Kaiser Augustus zu Ehren seiner Schwester. Was mich besonders faszinierte, war die Tatsache, dass hier später im Mittelalter der Fischmarkt stattfand. Das ist es, was mich immer wieder erfreut. Es sind nicht nur die alten Steine. Hier lebten Menschen, und als es mit der antiken Welt zu Ende ging, machten sie einfach etwas anderes daraus.
Nur wenige Meter entfernt ist das noch offensichtlicher. Das Theater des Marcellus ist gut erhalten. Weil es nach der Kaiserzeit als Wohnhaus gedient hat. Auf das antike Gebäude haben die Römer ihre Wohnungen gebaut. Das ist jetzt auch schon Jahrhunderte her, so dass man wirklich nicht von Neubauten sprechen kann. Ich kann meine Gefühle kaum beschreiben, aber ich war einfach glücklich, wieder hier zu sein.

Das jüdische Viertel, das ich beim letzten Besuch entdeckt hatte, verschloss sich mir heute. Wahrscheinlich war ich aber einfach zu müde. Ich beschloss, wieder zum Piazza del Popolo zurückzulaufen. Irgendwo in der Nähe des Trevi-Brunnens fragte mich ein ausländisches Pärchen nach dem Weg zu dieser Hauptattraktion. Ich hatte keine Ahnung, gab den Hinweis, einfach loszulaufen, der Menge zu folgen. Ich meinte das ernst, weiß aber, dass es nicht das ist, was junge Leute, die das erste Mal hier sind, hören wollen. Sei es drum, eine Minute später hatte ich den Brunnen gefunden. Also lag ich richtig. Man kann hier niemals wirklich falsch liegen. Selbst wenn man sein Ziel nicht erreicht.

Die Stadt hatte sich gefüllt, Samstag Nachmittag waren für meinen Geschmack viel zu viele Leute unterwegs. Die Spanische Treppe sah ich zwischen den Massen hindurchschimmern, jetzt war es definitiv Zeit zu gehen. Völlig fertig erreichte ich die U-Bahn, hatte den Punkt erreicht, an dem jeder Schritt zu viel wurde. Mit letzter Kraft erreichte ich den Campingplatz, sitze zufrieden und glücklich, aber energielos im Camper. Es macht nichts. Es ist, als wenn ich mit ihr lange, lange geredet habe. Alles haben wir angesprochen, zusammen gelacht, viel getrunken, uns einfach an uns selbst gelabt. Sex hatten wir nicht, uns war unsere Gesellschaft wichtiger. Auch kennen wir uns gut genug, um uns nicht sofort jugendlich-ungestümm bis ins Tiefste zu penetrieren. Ich bin einfach froh, wieder mit ihr zusammen zu sein. Ganz sicher werde ich niemals aufhören, sie zu lieben. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin. Aber einer allein würde ihr auch nicht genügen. Daher ist es gut, wie es ist.