Olympia

Wieder kein sehr guter Start in die Nacht und aus der Folge daraus in den Tag. Noch immer kämpfe ich mit gelegentlichen Bauchkrämpfen. Eigentlich hätte ich heute Pause machen müssen, doch da der Campingplatz im Nirgendwo liegt, womit gemütliche Spaziergänge an einem Hafen und ein Kaffee in einer Bar ausgeschlossen sind, sah ich es nicht ein zu bleiben. Die Sonne meldete sich zurück und nach dem langsamen Start fuhr ich irgendwann los, natürlich eigentlich viel zu spät, denn es war fast Mittag. Mein nächstes Ziel sollte Olympia werden, nur hundert Kilometer entfernt. Es war eine schöne, bedeutungslose Fahrt, ich sah dabei nichts, was mir im Gedächtnis geblieben wäre. Irgendwann stand ich vor dem Campingplatz in Olympia und war somit untergebracht, schneller als ich gedacht hätte.
Was nun? Ausruhen und die Besichtigungen morgen machen? Aber es war gerade einmal kurz nach eins. Schreiben? Damit würde ich den Tag auch nicht füllen. Ach was, jetzt bin ich hier, also gehe ich los. Ich plante, vielleicht das berühmte Museum heute zu sehen und die archäologische Stätte morgen. Es sollte natürlich anders kommen. Die Stadt selbst scheint mir nur für die historische Stätte und dem Abschöpfen dessen, was die Touristen hierlassen, gebaut worden zu sein. Souvenirläden und eine Taverne neben der anderen, aber die Leute müssen von etwas leben. In meiner allzu energischen Entschlusskraft hatte ich vergessen, einen Espresso zu trinken, aber da dieses winzige Getränk hier wie auch sonst in Griechenland mindestens 2,50 Euro kostet, verzichtete ich.

Den Weg zum Museum fand ich leicht, alles war bestens gepflastert und ausgeschildert. Ich kaufte ein Kombi-Ticket für Museum und archäologische Stätte. Es ist schon merkwürdig. An anderen Orten hätte ich niemals die 9 Euro so leicht aus der Tasche gezaubert. Aber hier zögerte ich nicht einen Augenblick. Vielleicht weil ich endlich die Gelegenheit hatte, einen der Orte zu sehen, der mein kulturelles Erwachen, das ich erst mit Anfang 20 hatte, mit ausgelöst hatte. Während damals meine Freunde und Bekannten ihre Schlosser- oder Bankerlehren begannen, ich übrigens im Hotel, und sich intellektuell sehr rasch ihrer Umgebung anpassten – selten zu ihrem besten – begann ich die alten Sagen zu lesen und mich mit der antiken Geschichte zu befassen. Ich las die antiken Autoren, Thukydides, Plato, Homer, Sophokles, Aischylos und noch einige andere, also alles Texte, die ich während der Schulzeit niemals angerührt hätte. Ich interessierte mich mehr für die Tagespolitik in Athen zur Zeit des Themistokles und später Perikles als für das Zeitgeschehen in meinem eigenen Lande. Der Effekt war natürlich abzusehen, binnen kürzester Zeit überwarf ich mich mit meinen damaligen Freunden, die sich nach und nach entfernten. Aber ich drifte wieder einmal ab.

Jetzt war ich also hier, am Ort, an dem die Olympischen Spiele geboren wurden. Ein Ort also, an dem der Gedanke „Dabeisein ist alles“ noch zählte. Von wegen. Auch die antiken Spiele waren innerhalb kurzer Zeit kommerzialisiert, die Sportler keine Amateure mehr, der nationale Gedanke trat immer mehr in den Vordergrund, statt die Einzelleistung der Sportler als solche zu würdigen. Politisiert wurde also schon immer, der Ruf von Siegern als Volkshelden ausgenutzt. Also alles wie heute. Warum auch nicht, denn der Mensch ändert sich nicht.

Trotzdem, es war ein Genuss. Ich begann mit dem Museum, ein wirklicher Höhepunkt bereits am Anfang meiner Rundfahrt. Das Museum ist sehr luftig gebaut, somit erstickt man nicht an der Masse der Ausstellungsstücke. Mein Interesse wurde bereits im zweiten Raum geweckt, in dem Bronzewerke ausgestellt waren. Wirkliche Kunstwerke, vor allem bei den Rüstungen, Opferstücke an die Götter. Ich weiß auch nicht, warum mich das so sehr fasziniert. Vielleicht weil mich die Siege der attischen Hopliten bei Marathon oder der spartanischen bei den Thermophylen seit Jahren so fasziniert haben. Die Perserkriege waren die ersten, die ich detaillierter für mich entdeckt habe. Vielleicht schaue ich mir das eine oder andere Schlachtfeld an, aber die haben meist den Effekt, völlig uninteressant zu sein. Ich habe es in Battle bei Hastings erlebt, auch wenn die Engländer alles tun, um die Umgebung anschaulich zu gestalten. Mal sehen. Jedenfalls sah ich hier die Helme vor mir und stellte mir die Krieger vor, die mit ihnen gekämpft und gesiegt haben. Vielleicht auch gegen die Perser, eines der besten Beispiele in der Geschichte, dass Unmögliches nicht existiert. Denn der griechische Sieg in den drei Kriegen muss zumindest als ein kleines Wunder und tragendes Ereignis in der Weltgeschichte gelten. Wer weiß, wir würden heute sonst alle einen wesentlich asiatischeren Zug in uns haben. Vielleicht hätte es sogar das römische Imperium gar nicht gegeben. Alles müßig, dennoch sehe ich diese Zeit zwischen 480 und 470 vor Christus als einen Schlüsselpunkt in der europäischen Geschichte, der alles verändert hätte, wäre es anders gekommen. Was wie gesagt sehr wahrscheinlich gewesen ist.
Hätte, hätte.

Ich hatte es fast vergessen, doch hier, in Olympia, stand eines der sieben Weltwunder, die Zeusstatue des Phidias. Die Werkstatt eines der berühmtesten Bildhauers der Geschichte befindet sich auf dem Gelände, hier im Museum ist ein besonderes Stück ausgestellt, seine Schale, aus der er getrunken hat. Sie ist markiert mit den Worten „Gehört dem Phidias“. Wenigstens besser als „Der beste Papa der Welt“ oder ein blödes Didl-Motiv. Die Statue selbst, aus Elfenbein und Gold, war in der ganzen antiken Welt berühmt. 800 Jahre stand sie hier, in Olympia, dann ist sie von den Byzantinern geraubt und nach Konstantinopel gebracht worden. Dort ist sie einige Jahrzehnte später verbrannt. Ein wirklicher Jammer. Aber auch unsterbliche Kunstwerke sind nicht unzerstörbar, auch wenn ihre Erinnerung lange nachhallt.

Das für mich größte Ereignis jedoch stand mir noch bevor. Die Statue des Hermes des Praxiteles. Vor vielen Jahren habe ich den Versuch unternommen, sie zu zeichnen, natürlich nur von einem Bild aus. Das Original jedoch ist unbeschreiblich, der Jüngling steht so leicht und gedehnt, die eine Hand erhoben, Hüfte leicht vorgeschoben. Amateure wie ich sollten so etwas nicht zeichnen, das ist lächerlich. Es ist trotzdem komisch, ich war einer der einzigen Besucher in diesem Raum. Den „David“ von Michelangelo sehen Tausende, die „Mona Lisa“ von Da Vinci ebenfalls. Dieses Werk steht ihnen in nichts nach, es ist eine Meisterleistung, Kunst aus einer anderen Dimension. Mir konnte es recht sein, denn ich hatte das Werk fast für mich allein.

Nach diesem Höhepunkt fiel es mir schwer, die anderen Werke ernst zu nehmen. Daneben sahen die römischen Statuen von Kaisern und anderen wichtigen Würdenträgern dieser Zeit krude und amateurhaft aus. Doch ein Schmankerl hatte das Museum noch zu bieten, das ich bis zum Schluss aufgehoben hatte. Es waren die Giebelfriese des Zeustempels, die denen der Akropolis sicher leicht das Wasser reichen können. Zumal diese hier wesentlich besser erhalten sind. Und in Olympia ausgestellt sind und nicht in London, wo diese einfach nicht hingehören. Aber das ist eine andere Debatte.
Beide Friese stellen Szenen aus der Welt der Mythologie dar. Der eine ist chaotischer, handelt vom Kampf der Götter gegen Centauren, also der Vernunft gegen das Chaos, oder anders der reinen griechischen Helden gegen das – persische – Barbarentum. Das zweite Fries gefiel mir besser, es handelt von König Oinamaos, dem vorhergesagt wurde, dass er von seinem Schwiegersohn getötet werden würde. Um das zu verhindern, veranstaltete Oinamaos gegen jeden Freier ein Wagenrennen, bei denen er einen nach dem anderen tötete. Bis Pelops um die Hand der Tochter anhielt, der mit Hilfe der Götter siegte und Oinamaos tatsächlich dabei umbrachte. Auf dem Fries ist der Moment vor dem Rennen zu sehen, die beiden Kontrahenten stehen sich gegenüber, starr und ruhig, strahlen beide Autorität und Sicherheit aus. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, vor dem tödlichen Rennen, doch keiner von ihnen zeigt Angst. Es ist ein schöner Gegensatz zum Fries gegenüber, das von der chaotischen Schlacht bestimmt ist.

Ich hatte etwas mehr als eine Stunde für das Museum gebraucht, also war es zu früh, um heimzugehen. Hier und jetzt, hieß die Devise. Also beschloss ich, auch noch das antike Olympia anzusehen. Besonders groß war es nicht. Es ist eigentlich eine echte Trümmertour, doch Dank einiger Dutzend Hinweisschilder erwecken die Griechen diese Welt wieder zum Leben. Ich sah die Orte, wo die Athleten trainierten, wo sie feierten oder wo sie badeten. Ich sah die Werkstatt des Phidias, die zu einer Kirche umgewandelt worden war und den Zeustempel, wo die berühmte Zeusstatue des Phidias gestanden hat. Dieser Anblick tat vielleicht am meisten weh, weil er so verlottert aussah. Überall liegen die riesigen Teile der Säulen herum, vom Tempel ist nur noch die Basis erhalten. Warum bauen sie ihn nicht wieder auf? Es liegen Hunderte von Teilen herum, die alle sichtlich dazugehört haben. Es ist eher ein Friedhof der Steine, wie übrigens auf dem ganzen Gelände. Wirklich schade drum, denn das würde Olympia die Würde von einst wiedergeben. So aber ist es nur eine weitere Trümmerstätte. Trotzdem, es lohnt sich. Vor dem Eingang zum alten Stadion entdeckte ich einige Stelen. Diese hatten früher Zeusstatuen getragen, die von denjenigen Athleten bezahlt worden waren, die zu einer Geldstrafe wegen Betrugs verurteilt worden waren. Inschriften darunter benannten das Vergehen. Das empfand ich als fantastische Idee. Man stelle es sich vor, vor dem Olympiastadium eine Statue von Lance Amstrong für eine erfolgreiche Dopinglaufbahn. Oder Michael Schumacher für das Bedrängen auf der Piste. Man könnte es auch politisch nehmen, Roland Koch mit einem schwarzen Koffer. Oder Angela Merkel mit dem Satz „Mehr Netto vom Brutto“. Die Idee der öffentlichen Zurschaustellung wird heute enorm unterschätzt, das Internet und die Medien können das nicht so gut und dauerhaft wie Statuen aus Marmor.

Das Stadion selbst ist eher unspektakulär, aber wenn man sich vorstellt, dass es mit 45000 Zuschauern gefüllt war, die an der Strecke saßen, gewinnt es doch an Bedeutung. Einige Jugendliche machten sich den Spaß und rannten auf dem Feld. Als sie dann jedoch ihre T-Shirts auszogen, gellte sofort der Pfiff einer Aufpasserin. Es ist schon eine eigenartige Moral, früher hätten die Athleten gar nichts angehabt. Aber die heutigen Griechen sind eben nicht die von damals.
In einiger Entfernung zum Stadion ist das Haus, in dem Kaiser Nero untergebracht war, als er 65 n. Chr. an den Spielen teilnahm. Man ließ ihn beim Wagenrennen gewinnen, obwohl er nicht einmal ins Ziel kam. Spätestens ab diesem Zeitpunkt verliert sich der Sinn von sportlichem Wettbewerb. Man stelle sich Angela Merkel mit Diskusscheibe in der Hand vor, oder Wowereit im Ringerkostüm. Göttlich.
Dann meldete sich mein Magen wieder und ich musste den Besuch abbrechen. Allerdings hatte ich alles gesehen, was ich hatte sehen wollen. Es war ein gelungener Start auf dem Peloponnes, es werden noch einige andere Momente dieser Art folgen, denn ich werde einige meiner Idole aus mykenischer und trojanischer Zeit treffen, wenn auch etwas zeitversetzt.
Morgen jedoch muss ich mich ausruhen. Am besten wäre ein kleines Fischerdorf mit Taverne, verwinkelten Gassen und einem alten Hafen, wo ich dem Meer für ein bis zwei Tage zuhören könnte. Ob ich das finden werde, sei dahin gestellt. Ich bin in dieser Richtung wirklich anspruchsvoll.