Fahrt gen Osten Richtung Silifke

Nach einigem Zögern heute Morgen fuhr ich tatsächlich ab. Beinahe bin ich schwach geworden, in der wärmenden Morgensonne, doch erinnerte ich mich wieder an den Ruf des Imam mitten in der Nacht, nach dem ich nicht mehr richtig hatte schlafen können. So wie jede Nacht vorher.

Pervin, die Besitzerin des Platzes, beschäftigte mich noch ein wenig, zeigte mir eine einzigartige Blüte, die sich normalerweise nur nachts öffnet, aber ihre Pracht in die frühen Morgenstunden überdauert hatte. Die Kamera hatte ich natürlich nicht dabei. Dann sah ich mir Bilder von Schildkröten an, auch einen kleinen Film. Laut Pervin legen die Meerestiere hier im Mai am Strand ihre Eier ab. Die Jungtiere schlüpfen dann einige Wochen später. Es beeindruckte mich sehr, bis zu 500-Kilogramm schwere Tiere laichen in der Gegend. Eine echte Attraktion also. Die Besitzer des Platzes sperren den Strand zwar nicht in dieser Zeit, doch löschen sie die Lichter und stellen auch die Liegestühle und Sonnenschirme in einiger Entfernung zum Meer auf. Die Nester werden durch Drahtgestelle gekennzeichnet, so können Mensch und Tier gemeinsam nebeneinander leben. Es scheint zu funktionieren, denn die Schildkröten kehren immer wieder zurück. Besonders das Schlüpfen muss ein Ereignis sein, wenn Hunderte der winzigen Kreaturen ihren Weg zum Meer suchen.

Mit Pervin unterhielt ich mich auch über Atatürk, dessen Todestag vor zwei Tagen gedacht worden war. Um Punkt 9:05, dem Todeszeitpunkt vor 72 (!) Jahren, hat es in der ganzen Türkei eine Schweigeminute gegeben, von der ich natürlich nichts mitbekommen hatte, denn meine Nase steckte zu dieser Zeit im Laptop. Bei der Unterhaltung war ich fasziniert von der Hingabe, mit der die Türken ihren Reichsgründer nach so vielen Jahren noch verehren. Es ist nicht aufgezwungen wie in der ehemaligen UDSSR oder der DDR, die Menschen reden mit allerhöchstem Respekt von ihm. Das hätte ich nicht gedacht, aber es ist so. Es geht natürlich so weit, dass die dunklen Flecken in Bewusstsein der Menschen so lange mit Licht bescheint werden, bis auch die Schatten erstrahlen. Um nur das Harmloseste zu nennen, Atatürks Todesursache. Parvin erzählte mir, er wäre vom Pferd gefallen. Die Leberzirrhose, die auch auf übermäßigen Raki-Genuss zurückzuführen war, überging sie dabei. Ich ließ sie in Ruhe, bohrte nicht. Und fragte auch nicht nach den Massakern an den Kurden, die auch während Atatürks Regierungszeit stattgefunden haben. Ich werde mich damit jedoch noch genauer beschäftigen, weil mein Interesse an diesem Mann auch für mich beginnt zu wachsen. Er scheint mir auf einer Stufe mit Churchil zu stehen, einer meiner größten Vorbilder. Führungspersönlichkeiten haben mich immer fasziniert. Aber nur Echte. Atatürk war mit Sicherheit eine. Ich werde über ihn lesen.

Meine Fahrt war heute eigentlich nicht sehr weit. 120 Kilometer in Richtung Osten führten mich jedoch über mehrere Gebirgsketten hinüber. Die Straßen waren teilweise sehr gut, manchmal jedoch noch nicht fertig. Das hieß also Pistenfahren. Ich finde das seit Marokko spaßig, man kommt im Schneckentempo voran, muss Schlaglöchern ausweichen. Echtes Autofahren eben. Dann endete die neue Straße und machte den Serpentinen Platz. An schwindelerregenden Abhängen entlang, teilweise ohne Leitplanken, schwitzte ich oft Blut und Wasser, zumal hiesige LKW-Fahrer trotz engster Straßen weder den Fuß vom Gas noch das Handy vom Ohr nehmen. Einmal dachte ich, dass es vorbei wäre, denn eigentlich hätte mich der Laster hinten streifen müssen. Sicher war es Millimeterarbeit. So also kam ich wohlbehalten auf dem Campingplatz an. Die Preisverhandlungen stellten sich als schwierig heraus, denn leider musste ich den Preis für zwei berappen. Ich bleibe ohnehin nicht lange.

Auf dem Platz traf ich das Schweizer Ehepaar wieder, nach beinahe vier Wochen. Es war eine folgenschwere Begegnung, denn die Beiden hatten versucht, nach Syrien zu gelangen. Trotz eines zwischenzeitlichen Besuchs in Ankara und dem Erstehen diverser Papiere war es ihnen nicht gelungen, an der Grenze ein Visum zu ergattern.
Ich weiß nicht, ob ich nicht auf eine solche Nachricht gewartet habe. Letztlich gibt mir das den Grund, nicht weiterzufahren. Es ist natürlich fadenscheinig, denn was bin ich schon für ein Abenteurer, wenn ich mich durch die individuellen Erfahrungen anderer beeindrucken lasse. Das habe ich noch nie getan, außer es passte mir in den Kram. Jetzt scheint es zu passen, eine Ausrede also, um nicht den sicherlich beschwerlichen Weg gen Osten zu suchen. Doch mein Entschluss steht fest. Irgendwann werde ich mich mit Rucksack auf den Weg machen. Und dann suche ich den Weg in Richtung Osten, werde ohne viel Gepäck reisen. Das erscheint mir sinnvoller. Und es gibt mir die Möglichkeit, wieder eine längere Fahrt zu planen, auch wenn es nicht ein Jahr dauern wird. Wird es jetzt aber auch nicht.

Ich glaube, erst heute habe ich begriffen, dass es wirklich wieder in die andere Richtung gehen wird. Es macht nichts. Veränderung ist mein Geschäft, es gehört zu mir wie nichts anderes auf der Welt. Also werde ich wie so oft im Leben die Richtung ändern, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Doch die Tage bis dahin werde ich genießen. Nach vielen Wochen sitze ich abends wieder vor dem Camper, denn es ist regerecht heiß. In drei Metern Entfernung plätschert das Meer und ganz ehrlich, ich werde es vermissen. Denn eines steht fest, in Italien wird es nicht so warm werden wie hier. Aber vielleicht in Tunesien.
Einige Entscheidungen stehen eben noch aus. Und diese Reise ist noch lange nicht vorbei. Selbst wenn ich wieder in den Westen fahre.