Tanger/Tarifa

Au weia. Im Lonely Planet steht, dass man in Tanger mit einer großen Portion guter Laune ankommen soll. Beim Abfahren ist es das gleiche. Wie auch bei der Hinfahrt schlief ich letzte Nacht nicht besonders gut, wachte oft auf, wälzte mich, weil mir alle möglichen Dinge durch den Kopf gingen. Auch hatte der Wind vom Meer her gehörig an Fahrt gewonnen und ich fragte mich, ob die Fähren heute fahren würden. Zwar schüttelte dieser kleine Sturm meinen Camper, doch draußen stellte er sich als kaum mehr als ein laues Lüftchen heraus, so dass ich beruhigt abfahren konnte.
Bereits um 6 Uhr war die Nacht für mich vorbei gewesen, ich packte alles so gut es ging und machte mich noch einmal zu einem Supermarkt auf, um noch einige Sachen zu kaufen. Auch weil ich noch 1000 Dirham übrig hatte, die ich gewillt war, komplett loszuwerden. Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, denn was brauchte ich schon? Eine klassische Teekanne, schöne Gläser dazu, ein arabisches Hemd, einige Lebensmittel, die kaum etwas kosteten, mehr als 500 schaffte ich nicht. Also tankte ich noch, hatte immer noch Geld übrig, das man nicht ausführen darf. Vielleicht war es besser so, denn auf diese Weise bekam ich von einer Umtauschstelle einen offiziellen Beleg für den Zoll, dass ich alles, was ich an marokkanischem Geld besaß, umgetauscht hatte. Am Ende interessierte sich kein Mensch dafür. Das war das geringste meiner Probleme. Ich hatte mich schon auf eine kleine Tortur eingestellt, von der ich für einen winzigen Moment dachte, dass sie nicht eintreffen würde. Als ich am Hafen ankam, waren nur drei oder vier Fahrzeuge vor mir. Die notwendigen Stempel bekam ich von der Polizei, zwei Zollbeamte durchsuchten meinen Wagen recht oberflächlich, alles schien einfach. Dann winkten sie mich, statt links herum zu den Fähren, rechts herum, und meine Träume von einer stressfreien Abfahrt zerstoben wie Staub unter einem Hammer. Ich sah reihenweise LKWs vor mir, dachte zuerst, dass ich falsch gefahren wäre. Doch nach einigen Erkundigungen erfuhr ich, dass ich zum Scannen anstand, das heißt, mein Camper. Ein diesmal recht hilfreicher „Tout“ lotste mich allerdings an den LKWs vorbei, deren Fahrer das gar nicht lustig fanden. Hinter mir schlossen sich ein Franzose und ein Spanier an. Das Ganze war am Ende sogar recht billig, einen Euro bekam mein marokkanischer Kompagnon. Trotzdem waren noch einige LKWs vor uns, hier warteten wir sicher eine dreiviertel Stunde. Zum Glück war ich nicht allein und hatte somit nicht das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich nahm es mit reichlich Humor, letztlich war ich deshalb so früh aufgebrochen. Irgendwann kam der Scan. Ein riesiges, eckiges Ungetüm fuhr piepend an meinem Wagen und denen der anderen vorüber. Wie erwartet fanden sich weder Drogen noch Waffen an Bord, ich bekam einen winzigen Zettel mit einigen Zahlen und einem Stempel darauf. Etwas erbärmlich für so eine lange Zeit des Wartens. Dann fuhr ich wieder in den Hafen ein, war im Grunde an der selben Stelle wie Stunden vorher, nur eben mit dem winzigen Zettel in der Hand. Wieder kam jemand vom Zoll, wieder wurde der Wagen oberflächlich untersucht. Ich wurde gefragt, was ich in Marokko alles gesehen hatte. Wäre jetzt irgendein Ort im Osten aufgetaucht, ich bin sicher, die Beamten hätten den Wagen fachgerecht oder auch weniger auseinandergenommen. Doch Féz und Meknes waren anscheinend ungefährlich.
Endlich war ich durch. Die Fähre, die eigentlich um 12 hätte abfahren sollen, kam erst um halb eins, eine Stunde später, genau jetzt, fährt sie ab. Der Wagen ist übrigens nochmals untersucht worden, diesmal von der Polizei, die nachschauen wollte, ob sich jemand an Bord geschmuggelt hat. Keine Chance, ich bin durch. 7,5 Stunden, nachdem ich aufgewacht bin. Es ist schlimmer und langwieriger als Fliegen.

Marokko verabschiedet sich also von mir auf die gleiche Art, wie es mich begrüßt hat. Ich sage das nicht bitter, sondern bin völlig gelassen, denn es ist nun mal die Art, wie dieses Land funktioniert. Einfaches wird schwierig, schwieriges manchmal einfach, die Geduld oder gar seine gute Laune sollte man nie verlieren, das ist eine Lektion, die ich lerne. Langsam lerne.
Zurück bleiben tausend Bilder in meinem Kopf, und natürlich auf den Speicherchips meiner Kamera, deren Geschichte ja auch nicht gerade die glücklichste war. Es ist in jedem Fall ein Land im Aufbruch. Kaum ein Ort, an dem nicht gebaut wird, kaum ein Ort, an dem ein Europäer nicht sofort auffällt. Noch sehen viele Marokkaner die Touristen nur als eine Art Beute, doch bin ich mir sicher, dass auch das bald ein aussterbendes Verhalten sein wird. In Städten wie Féz gibt es bereits eine besondere Polizeitruppe, die Touristen davor bewahrt, all zu sehr von Händlern oder Faux Guides belästigt zu werden. Straßen entstehen im ganzen Land, bei den Dutzenden Polizeikontrollen bin ich nur ein einziges Mal angehalten worden, und auch das nur, um herzlichst begrüßt zu werden. Trotzdem ist Marokko kein einfaches Land, niemals war ich entspannt, war immer auf der Hut, doch ist das ohnehin meine Wesensart, so dass ich mich vielleicht aus diesem Grunde so wohl gefühlt habe: Es ist eben kein leichtes Reisen, sondern ein anstrengendes, forderndes. Mehr als einmal durfte ich meine Grenzen erfahren, ich habe es jedes Mal genossen, auch wenn ich das in dem Moment nicht zugegeben hätte. Ich war jeden Tag gefordert, musste mich Herausforderungen stellen und habe diese Herausforderungen angenommen. Ich weiß, dass ich als Reisender und als Mensch in dieser Zeit gewachsen bin, durch meine eigenen Erfahrungen und Abenteuer, die ich gesucht und gefunden habe. Ich bin darauf ein kleines bisschen stolz. Muss ja auch mal sein.
Auch wenn ich mein seit 39 Jahren aufgebautes Misstrauen nicht losgeworden bin, habe ich es doch immerhin geschafft, es ein wenig aufzuweichen. Sicher bin ich noch weit davon entfernt, es los zu sein und manchmal ärgerte ich mich auch über vielleicht verpasste Chancen, in noch intensiveren Kontakt mit Einheimischen zu kommen, doch ist Rom auch nicht an einem Tag erbaut worden. Das nächste Mal weiß ich mehr und komme mit der viel neugierigeren Art der Marokkaner sicher besser zurecht. Sie haben mir schließlich so viel beigebracht.

Ich fürchte jedoch, dass Marokko nicht so bleiben wird, wie ich es jetzt kennengelernt habe. Es ist reich an Kunst und Kultur und braucht einen Vergleich mit anderen, großen Reiseländern in Europa nicht zu scheuen. Die Marokkaner wissen das und sie arbeiten daran. Der emsige König baut an seinem Land, führt es in rasender Geschwindigkeit in die Zukunft. Es ist schön, Marokko jetzt gesehen zu haben, in halb fertigem Zustand, wo das Alte noch kräftig durchscheint, doch das Neue schon überall sichtbar ist. Wer das noch kennenlernen will, sollte sich beeilen. Wenn ich eine Aussicht wagen darf, dann schätze ich, dass sich Marokko in wenigen Jahren in ein ähnliches Open Air Museum wie beispielsweise Italien entwickeln wird, wo man Authentizität mit der Lupe suchen muss. Jetzt ist es noch wild, ungebändigt, zumindest weitgehend. Doch die Stränge, die eine gut entwickelte Tourismusindustrie unausweichlich mitbringen wird, liegen bereits griffbereit zur Hand. Ich bin froh, sie noch nicht in Aktion gesehen zu haben.
Eines meiner größten Abenteuer geht zu Ende, ich bin im Begriff, wieder im anonymen Europa anzukommen, werde sicher noch eine ganze Weile wildfremde Menschen grüßen, so wie ich es in den letzten vier Wochen gelernt habe.
Ich nehme mir vor, die Eindrücke der letzten Wochen einige Tage lang zu verarbeiten. Ich weiß, dass ich diese Zeit bis zur Unkenntlichkeit abkürzen werde, so wie es immer schon meine Art war. Es geht immer irgendwie weiter, vorwärts, unabänderlich. Vielleicht ist das auch der Grund für die fehlende Trauer heute, die ich gestern noch so intensiv gespürt habe. Jetzt folgt eben etwas anderes, neues.
Denn:
Marokko ist vorbei, lang lebe Spanien.