Rom

Und wieder ein wundervoller Tag in der Hauptstadt, ein Tag, an dem ich wieder einigen Geheimnissen auf die Spur gekommen bin. Heute früh war ich allerdings erst einmal schockiert. Es waren beinahe frühlingshafte Temperaturen, die mit meinem Kreislauf Pingpong spielten. Vielleicht steckten mir auch noch die vergangenen Tage in den Knochen, die zwar geistig sehr anregend, aber körperlich nicht ganz ohne gewesen waren.

Gleich nach dem Aufstehen begann ich mit der Morgen-Lektüre. Der heutige Tag sollte sich um Türme drehen. Wieder einmal stellte ich fest, dass das Leben in Rom wahrscheinlich zu keiner Zeit besonders angenehm gewesen ist, vielleicht einmal abgesehen vom Jetzt, aber auch das ist in keiner Weise erwiesen. Nach dem Untergang des antiken Reiches muss hier mindesten 1000 Jahre lang das Chaos regiert haben. Die einfache Bevölkerung hatte nichts Besseres zu tun, als die antiken Prachtbauten zu plündern, lebte davon zwar nicht besonders gut, aber überlebte immerhin. Einige wenige Mächtige bekämpften einander. Um sich besser schützen zu können, bauten sie Wehranlagen, oft mit hohen Türmen. Eigentlich erinnert das eher an San Gimignano, doch wenn man es genau betrachtet, gibt es in Rom natürlich noch mehr von diesen Geschlechtertürmen. Sie sind nur nicht mehr so präsent, weil sich die Skyline Roms so stark verändert hat. Sicher zu viele Kirchenkuppeln.

Ich begann meinen Rundgang heute im Lateran, direkt an der ehemaligen Papstresidenz, von der heute allerdings nichts mehr übrig ist. Auf meinem Plan standen zwei Kirchen, aber bevor ich begann, schaute ich mir San Giovanni di Lateran an, die sich sicher mit dem Petersdom messen kann, zumindest was die Pracht betrifft. Mich beeindruckt das allerdings nicht mehr wirklich. Besonders nach dem heutigen Tag bin ich in meinen Grundfesten noch mehr überzeugt, dass Religion und Macht nicht zusammenpassen. Durch die Loslösung der Religion vom Glauben wird diese „Erfindung“ leer. Leider begreifen das die Meisten nicht. Aber dazu später. Das Einzige, was mich beeindruckte, waren einige gigantische Heiligenbilder. Was mich faszinierte, war die Tatsache, dass einige von ihnen die Art ihres Martyriums in den Händen hielten. Einer lehnte sich auf eine Säge, ein anderer griff einen Dolch und hatte seine eigene Haut in den Händen. Ziemlich makaber. Das Beste an dieser Kirche ist, dass es eine öffentliche Toilette gibt. Das ist sonst in Rom ein ziemliches Problem, wie ich gestern festgestellt hatte. Immerhin also eine praktische Erkenntnis.

Diesen Teil der Stadt kannte ich noch nicht, daher brauchte ich eine Weile, bis ich den Weg gefunden hatte. Er führte mich in die Via dei Santi Quattro, dann zur gleichnamigen Kirche. Es ist ein sehr frühes Bauwerk, als ich mich ihr näherte, dachte ich erst, es handle sich um eine Festung. Aber das war schließlich das Thema des Tages. Wirklich, es ist im Grunde beides – Kirche und Festung. Vor einiger Zeit ist ein Schacht entdeckt worden, der direkt zur Laterankirche führt, also der früheren Papstkirche. In Zeiten der Gefahr konnte sich Il Papa hierher retten. Was heute also die Engelsburg ist, war früher die Kirche dei Santi Quattro. Es ist ein charismatischer Bau, etwas düster, dafür voll mit kleinen Geheimnissen und verborgenen Schätzen. Ich schaffte es allerdings nicht so weit, aber immerhin in die Kirche hinein, wo einige Nonnen gerade ihre Gebete ausübten. Ich wollte mich nicht so rasch in die Flucht schlagen lassen, daher setzte ich mich.
Die Gesänge übten auf mich etwas Beruhigendes aus. Ich kann nicht sagen, dass ich hier ungerne saß, auch wenn das in dieser Zeit sicher als unmodern gilt. Die Atmosphäre war herzlich, ich war hier wie jeder willkommen. Manchmal glaube ich auch, dass ein solcher Ort, an dem nun schon so lange gebetet und auch geglaubt wird, etwas davon in sich aufnimmt. Vielleicht ist es auch das Gute, das so viele Menschen hier hinterlassen haben. Gerade eine Kirche wie diese, romanisch, voller Charakter, ein Ort also, der warm ist, scheint mir bereit dazu, etwas Höheres aufnehmen zu können. Ein Petersdom oder die Laterankirche schaffen so etwas nicht. Zu kalt, zu reich und damit unehrlich.

Ich hatte auch Zeit, mich einfach umzusehen. Es ist wie gesagt ein dunkler romanischer Bau, die Säulen sind allesamt antik, wie ich bei Augius erfahren habe, die prächtig bemalte Apsis ebenfalls, denn es handelte sich vorher um ein antikes Gebäude. Allerdings ist es im Jahre 1034 zerstört und später wieder aufgebaut worden. Die Normannen leisteten damals ganze Arbeit. Nicht nur hier.
Nach dem kurzen Gottesdienst kam jedoch die Ernüchterung. Die Kirche wurde geschlossen. Ich bekam weder den prächtigen Säulengang noch das berühmte Fresko zu sehen. Um vier würden sie wieder öffnen. Es war gerade einmal halb eins.
Nun muss ich sagen, dass ich selbst schuld bin. Schon gestern hatte ich erlebt, dass Kirchen hier morgens recht früh öffnen, dann aber um die Mittagszeit lange geschlossen haben. Auch bei der nächsten Etappe ging es mir so, ich hatte es mir schon beinahe gedacht. Unweit der Kirche dei Santi Quattro befindet sich die Basilika San Clemente. Auch sie war natürlich geschlossen, würde aber immerhin in zwei Stunden wieder öffnen.
Ich beschloss, in jedem Fall wiederzukommen. Aber erst lief ich zum Kolosseum. Es ist auch immer wieder schön, es zu sehen. Aber heute fiel mir auf, dass es wieder einmal unglaublich voll war. Die beiden Kirchen, die ich gerade besucht hatte, waren beinahe menschenleer gewesen. Ganz sicher jedoch ist das geheimnisvolle Rom, das man sich erarbeiten muss, interessanter. Schon weil kaum jemand davon weiß.

Ich lief weiter zur Via Cavour. Dort stand nun ein echter Turm, der Torre dei Conti, einst ein prächtiger Wehrturm der Familie. Auch heute ist er noch gewaltig. Aber leider nicht zugänglich. Unweit davon steht der Torre delle Millizie. Er ist ganz nach italienischer Tradition schief. Auch er wird kaum beachtet, allerdings ist er Teil des Komplexes der Trajansforen. Um ihn zu sehen, muss man Unsummen hinlegen, also ließ ich es.
Es war Zeit für einen Kaffee, danach genoss ich die Nachmittagssonne auf dem Piazza del Quirinale. Das Buch gab mir noch weitere Hinweise zu anderen Geschlechtertürmen, doch ich konnte nicht mehr. Ich saß eine halbe Stunde und ruhte mich aus. Vielleicht ist das der Grund, warum es mir heute so gut geht.
Es war an der Zeit, mich auf den Rückweg zu machen. Irgendwie vergeht hier die Zeit sehr schnell. Kein Wunder, es gibt so viel zu entdecken. Als ich in San Clemente ankam, war die Basilika bereits wieder offen. Ich schaute mir den oberen Teil noch nicht an, was mich interessierte, waren die unterirdischen Gewölbe. Hier stößt man in die tiefste Vergangenheit vor, denn einige Teile sind noch aus republikanischen Zeiten des antiken Roms. Der muffige Geruch von Feuchtigkeit beginnt schon an der ersten Stufe. Zehn Meter geht es hinab, doch erst kann man sich eine frühchristliche Kirche ansehen, die hier vier Meter unter der neuen liegt. Einige Fresken, teilweise aus dem vierten Jahrhundert, sind noch erhalten. Aus den Wänden ragen Marmorteile heraus, die antiken Gebäuden entnommen worden sind, um diese Kirche zu bauen. Es ist beachtlich, Statuen, Giebel, Eierstäbe, alles ist bunt gemischt.
Was mich aber wirklich interessierte, waren die Räume, in denen der Mithraskult gefeiert wurde. Es ist lange her, dass ich darüber gelesen habe. Fakt ist, dass es durchaus möglich gewesen wäre, dass sich dieser Kult zur Weltreligion aufgeschwungen hätte, und nicht die Sekte um den Nazarener Jesus. Hier unten liegt eines der wenigen überlebenden Heiligtümer, samt Opfertisch, auf denen die Stiere dargebracht wurden. Es ist ein mystischer Ort. Direkt neben dem Heiligtum ist eine Gasse. Vor zweitausend Jahren sind hier sicher die Menschen entlang gelaufen. Heute tun sie es viel weiter oben. Faszinierend.
Auch die Kirche oben drüber ist sehenswert. Vor allem das prächtige Mosaik in der Apsis schillert einem entgegen. Es ist sehr viel Gold enthalten, was den ganzen Raum erwärmt. Ich kann sagen, dass es eine der interessantesten Kirchen ist, die ich jemals gesehen habe.

Danach machte ich mich wieder auf in Richtung Santi Quattro. Jetzt war auch diese Kirche wieder geöffnet. Eine alte Nonne öffnete mir und ich konnte den herrlichen Klostergarten bewundern. In den Gängen und an den Wänden befinden sich die skurrilsten Marmorreste. Kapitelle sah ich und Säulenreste, aber auch Sarkophage und Platten mit Inschriften. Im Innenhof plätscherte lustig ein Brunnen. Es ist einer der friedlichsten Orte der Stadt. Zumindest soweit ich das sagen kann.
Aber auch deshalb war ich nicht da. Ein Kleinod wollte ich unbedingt sehen. In einem Seitenstrang des ersten Innenhofs ist ein kleiner Raum. Neben einem Gitter befindet sich eine Öffnung, in der eine hölzerne Walze untergebracht ist. Es ist die „Baby-Walze“. Ungewollte Neugeborene konnten hier wie in einem Müllschlucker deponiert werden. Es sieht dabei alles so unschuldig aus.
Gegenüber dieser Walze befindet sich das, was ich eigentlich besichtigen wollte. Eine Attraktion, die gleichzeitig den Höhepunkt des heutigen Tages bildete. In der Kapelle des heiligen Sylvesters ist eine der schicksalhaftesten Lügen in der Geschichte dargestellt: die Konstantinische Schenkung. Sie ist auf Fresken festgehalten. Der Legende nach hat ein Papst den totkranken oströmischen Kaiser geheilt. Zum Dank hat dieser ihm die Herrschaft über das gesamte weströmische Reich geschenkt. Es hört sich so lapidar an. Ist es aber nicht. Denn erstens ist dieser Vertrag eine Fälschung, was an sich schon eine Frechheit ist. Konstantin war ein zu guter Politiker und Führer, als dass er einen solchen Fehler gemacht hätte. Zum Anderen, was viel schwerer wiegt, begründeten mit dieser Schenkung Päpste viele Jahrhunderte lang ihre weltlichen Ansprüche. Auf einem Fresko, dem letzten, ist zu sehen, wie Konstantin ehrerbietig das Pferd des Papstes führt. Schon hier könnte man antizipieren, was sich in den folgenden Jahrhunderten ereignen wird: Der Papst wird sich anmaßen, weltliche Herrscher unter seine Knute zu bringen. Den Höhepunkt bildet sicher der Gang nach Canossa im elften Jahrhundert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn die Päpste entschieden hätten, sich nur für den Himmel zu interessieren, will sagen das Seelenheil der Gläubigen. Musste es auch noch die Welt an sich sein? Hier hat die Kirche begonnen, sich zu verkaufen. Nun seht, was aus ihr geworden ist.

Ich hab heute wieder viel erlebt, bin auf Pfaden getreten, die kaum ein Tourist betritt. Ich frage mich, warum eigentlich? Vielleicht ist es gut so. Auf diese Weise bleiben diese Attraktionen so ruhig, wie sie sind.
Ich weiß nicht, wann ich Rom verlassen sollte. Ich habe so viel Spaß am Reisen wie lange nicht mehr. Natürlich ist es wesentlich teurer, aber das beschäftigt mich ungewohnter Weise im Augenblick kaum. Morgen bleibe ich in jedem Fall noch. Danach werden wir sehen.