Domme
Ich war recht früh auf den Beinen. Das Wetter war nicht das Beste, aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Solange es nicht sintflutartig regnet, was auch vorkommt, unternehme ich etwas. So ließ ich mich also nicht von den wenigen Tropfen abhalten, sondern bereitete meinen Ausflug vor. Meine Morgenroutine hat sich ein wenig verändert. Da meine Schilddrüse beschlossen hat, langsam die Funktion einzustellen, muss ich zusätzlich Hormone auf nüchternen Magen nehmen. Und dann noch mindestens eine halbe Stunde warten, bis ich frühstücken kann. Es ist manchmal etwas nervig, zwingt mich aber, für ein wenig Ruhe am Morgen zu sorgen. Manchmal wache ich nachts auf und nehme einfach die Tablette. Dann kann ich morgens etwas rascher durchstarten. Zum Glück darf ich Kaffee trinken. Sonst wäre es wirklich tragisch. Das ist der Grund, weshalb ich morgens jetzt immer ein bisschen länger brauche. Und das ist auch der Grund für meine Stimmungsschwankungen, von denen ich fürchte, dass sie sich manchmal auch in diese Zeilen schleichen. Depressionen sind eine Nebenwirkung der fehlenden Hormone. Allerdings kann ich nicht genau feststellen, wo der Grund für meine zunehmende Schwermut zu finden ist, denn auch wenn ich sie gerne auf die noch nicht fachgerechte Medikation schieben würde, liegt sie doch in meiner Natur. Und in verrückten Zeiten wie diesen, in denen moralische Selbstverständlichkeiten plötzlich nicht mehr zu gelten scheinen, ist es kein Wunder, dass es bei mir zu Gemütsschwankungen kommt.
Jedenfalls war ich vor zehn bereit zum Aufbruch. Keine Meisterleistung, ich weiß. Aber es ist so lange hell, beinahe bis 22 Uhr, dass ich nun wirklich keine Eile habe. Es ist das Wundervolle am Frühling. Die Tage wollen einfach nicht enden und beginnen früh.
In Domme, dem Ort, in dem ich eigentlich übernachten wollte, hätte der Campingplatz schon geöffnet, findet Donnerstag Markt statt. Noch habe ich dieses Jahr keinen gesehen, also freute ich mich darauf. Es waren ungefähr sieben Kilometer, die ich mit dem Rad zurücklegte, nicht viel auf ebener Strecke. Domme ist schon von Weitem zu sehen, der Ort thront über der Dordogne und ist für seinen Panoramablick über die Ebene bekannt. Ich kam in Cenac an, die kleine Stadt, die unter dem Berg liegt, auf dem Domme sich befindet. Ich stellte mein Rad dort ab, seit Bordeaux immer mit dem schlechten Gewissen, es nicht mehr vorzufinden, was keine besonders gesunde Einstellung ist, und begab mich auf den Wanderweg nach oben. Es waren vielleicht anderthalb Kilometer, die ich steigend zurücklegte. Ich merke langsam, dass ich stärker werde. Die Steigung, die manchmal ziemlich gewaltig war, legte ich ohne größeres Schnaufen zurück. Das ist neu. Da ich seit drei Jahren unter Asthma leide, denke ich, dass ich fitter werden muss, um diese Krankheit besser in den Griff zu bekommen. Nun also habe ich mal über alle Gebrechlichkeiten gesprochen. Habe ich erwähnt, dass ich ohne Brille nicht mehr lesen kann? Nein? Ha, da habt Ihr es. Nehmt auch das noch, ihr Schweigeeinhörner.
Domme erreichte ich also und betrat es durch ein kleines Tor. Sollte das nicht größer sein? Ich hatte es durch meine Recherchen anders in Erinnerung. Ich betrat also diese wie auf dem Reißbrett entworfene kleine Stadt. Eile hatte ich nicht. Als erstes schaute ich mir die Reste der Befestigung an. Es ist nicht viel geblieben von der ehemaligen Stadtmauer. Vielleicht ist sie geschleift worden. Oder die Leute haben lieber ihre Häuser mit dem Material gebaut, als Mauern begannen, an Bedeutung zu verlieren. Ich weiß es nicht. Jedenfalls war es schön, diese urigen Gebäude betrachten zu können, wuchtige Steinhäuser ohne Putz. Es dauerte nicht lange, bis ich die Hauptstraße betrat. Und hier begann eigentlich das Übel. Ich habe es so oft gesehen, in Carcassone, in St. Malo und am Mont St. Michel. Wenn eine Gegend touristisch ausgeschlachtet wird, beginnt der französische Jahrmarkt. Überall dieselben Buden. Geschäfte, die Seife anboten (immer die gleichen Produkte), Gänseleberpastete in allen Formen, Wein natürlich, Sandwicherien oder Burger-Restaurants, dazwischen sicher auch ernsthafte kulinarische Etablissements. Töpferwaren, die alle gleich aussehen und natürlich, es darf nie fehlen, Prinzessinen- und Ritterkostüme samt Holzschwertern für die Kleinen. Und wie ich es fast erwartet hatte: Eine Touristenbahn gondelte kurz darauf an mir vorbei. Ich möchte nicht übermäßig kritisch sein, aber mit Flair hat das nicht mehr viel zu tun. Der Markt war auch kein wirklich französischer, sondern schien sich vollkommen auf die Touristen spezialisiert zu haben. Ton Traumfängern bis Sommertrüffel (die ja nichts sind im Vergleich zu den Wintertrüffeln), alles, was das Touri-Herz begehrt. Nun, ich habe mir die Gegend selbst ausgesucht. Also sollte ich nicht jammern. Immerhin, die Aussicht ist wirklich traumhaft. Da man sich auch von allen anderen abwendet und sich somit konzentrieren kann, ist es auch wirklich schön. Das Tal der Dordogne lag vor mir, die sanften Hügel erhoben sich, manchmal kamen die schroffen Felsen zum Vorschein, die der Fluss in Jahrtausenden ausgespült hat. Ich sah auf eine uralte Landschaft. Ich war hier, ein Ort, den ich vor zwei Jahren nicht erreichen konnte. Das ist schon ein erhebendes Gefühl. Also genoss ich den Blick.
Danach lief ich noch abseits der Hauptstraße die Wege ab. Hier war es wirklich auszuhalten. Schließlich entdeckte ich das Haupttor. Es hatte etwas Römisches an sich. Wuchtig und massiv. Es war das, welches ich auf den Fotos, die ich vorher angesehen hatte, entdeckt hatte. Auch hier führt ein Wanderweg hin, ich weiß aber nicht, wie ich von Cenac dort hingekommen wäre. Ich ging wieder zurück zum Marktplatz, besuchte noch einen Buchladen, der Gebrauchtes führte. Wenn mir die Lektüre ausgehen sollte, kann ich hierher zurückkehren. Es ist aber nicht wahrscheinlich, denn ich habe die gesammelten Werke von Dostojewski auf dem E-Book-Reader. Ich fand eine etwas ältere, dreiteilige Biografie über Gustav Mahler. Dicke Schinken, die für 100 Euro zu haben gewesen wären. Zu schwer, zu teuer. Leider auch zu französisch, denn mein Niveau ist sicher noch nicht so weit. Und diese Bücher würde ich liebend gerne lesen wollen, zum Angeben sind sie aber viel zu schade.
Ich lief den Weg an der Felskannte ab. Schon eigenartig, wie schnell sich die Scharr an Reisenden verläuft, sobald man die ausgetretenen Wege verlässt. So langsam kam dann doch die Stimmung auf, die mich oft trifft, wenn ich alte Orte besuche. Eine gewisse Ruhe und Zufriedenheit, die sicher alle Reisenden kennen.
Wie es so ist, hatte ich aber irgendwann wirklich alles gesehen. Ohne lange zu zögern, lief ich also den Berg wieder hinab. Das Rad war noch da. Schön. Es war kaum zwölf, viel zu früh, um sich auf den Campingplatz zu begeben. Also entschied ich mich dafür, La Roque Gageac zu besichtigen, immerhin nur anderthalb Kilometer vom Campingplatz entfernt. Schon gestern war ich zwangsläufig viermal durchgefahren. Heute aber hielt ich auch mal an.
Auch La Roque ist ein plus beau village, allerdings ist der Kitsch nicht ganz so auffällig wie in Domme (das kein plus beau village ist). La Roque liegt direkt an der Dordogne und nutzt diesen Vorteil auch. Stündlich legen Boote mit Bänken ab, die scharenweise Touristen aufnehmen können. Ich kann das verstehen, das Tal vom Wasser aus zu sehen ist etwas ganz anderes, wie ich aus Erfahrung weiß. Mir aber stand der Sinn eher danach, mir die Felsenbehausungen, die von der Straße aus sichtbar sind, anzusehen. Ich muss dazu sagen, dass La Roque wirklich einmalig malerisch liegt, zwischen Fluss und Felsen schmiegt es sich an beide. Es blendet sich praktisch in die Steine, aus denen es auch gemacht ist, ein, fließt unten fast ins Wasser hinab. La Roque ist nicht groß, vielleicht zweihundert Meter lang. Es gibt auch nur die Hauptstraße und einen schmalen Pfad weiter oben. Die Felsenbehausungen, die aus dem Mittelalter stammen, sind nicht zugänglich. Ganz sicher aber leben hier seit Zehntausenden Jahren Menschen. So wie überall hier. Das muss man sich immer vor Augen führen. Ich entdeckte eine Reihe von Wanderwegen, die ich vielleicht ausprobieren werde. Das Wetter soll sich bessern. Sagen zumindest einige Vorhersagen. Mal sehen. Ich jedenfalls war für den heutigen Tag fertig. Viele Eindrücke habe ich gesammelt. Ich bin froh, nochmal hergekommen zu sein. Die Reise vor zwei Jahren hatte so etwas Unvollendetes. Es ist schön, den Kreis schließen zu können.