Tanger

Ich kann es gar nicht fassen, ich sitze auf der Fähre. Der Sturm hat gestern Abend nochmals zugelegt, so dass ich dachte, es hätte heute ohnehin keinen Sinn, die Überfahrt zu probieren. Doch ebbte der Sturm merklich ab, so dass ich mich ohne Schwierigkeiten plötzlich auf der 11-Uhr-Fähre nach Tanger befand. Zwar haben wir etwas Verspätung, doch das macht nichts. An Bord sitzt bereits ein marokkanischer Angestellter der Einwanderungsbehörde, der ausgesprochen effizient sämtliche Pässe kontrolliert und die benötigten Visa in die Ausweise stempelt. Einzig der spanische Kollege konnte es einmal wieder nicht lassen, meinen Ausweis näher zu prüfen, während sein Kollege alle anderen durchwinkte. Doch das kenne ich bereits von den englischen, französischen und deutschen Beamten, in deren Klischee von einem eigenartigen, mysteriösem Halbterroristen ich anscheinend bestens passe.
Ich habe ein Gefühl, das sich irgendwo zwischen Aufregung und Angst bewegt, die beide völlig normal sind. Jetzt geht es los, wir laufen aus dem Hafen aus….

Endlich angekommen. Nach mehreren Stunden steht der Camper nun auf dem Campingplatz bei Tanger und die Eindrücke der letzten Stunden haben mir gezeigt, dass die wenigen Kilometer der Straße von Gibraltar einen mächtigen Unterschied zwischen Europa und Marokko ausmachen. In Spanien fühlte ich mich noch selbstbewusst, eben wie in der Heimat. Das war im Hafen sofort vorbei. Wir wurden vom Schiff gelotst, dann stürzten sich mehrere Dutzend „Toots“ – die deutsche Übersetzung für diesen Begriff habe ich noch nicht gefunden – auf uns und zockten die unerfahrensten von uns ab. Ich gehörte dazu. Für das einfache Ausfüllen eine Wisches, der Angaben zu meinem Auto enthielt, nahmen mir zwei von diesen offiziel angezogenen Typen jeweils einen Zehn-Euro-Schein ab. Dass sie nicht zum Zollpersonal gehörten, merkte ich erst viel später, als ich die echten Zollbeamten sah. Doch das war erst mindestens 1,5 Stunden später der Fall, denn heute war der Tag des gründlichen Untersuchens der Fahrzeuge. Es ging selten voran in der immensen Schlange aus älteren und neueren Blechkisten und wenn dann nur wenige Meter. Ziel war ein riesiges Zollhaus, in dem sich einige Beamte um die Fahrzeuge kümmerten. Ich sah, wie sie Leute ganze Wagenladungen ausräumen ließen und muss gestehen, dass ich in dieser Sekunde durchaus den Wunsch verspürte, sofort nach Spanien zurückzukehren und mir diesen Unsinn nicht anzutun. Doch diese Option hatte ich nicht, denn ich stand dicht eingepfercht zwischen anderen, hauptsächlich französischen, Urlaubern und wartete ab, was mir denn blühen würde. Endlich stand ich im Zollhaus und der Beamte kam zu mir. Er musterte recht flüchtig meine Papiere, wurde dabei von einem weiteren „Toot“ genervt, der mir vorher seine Dienste versprochen hatte und dafür sorgen wollte, dass ich rasch durch die Prozedur hindurch kommen konnte. Natürlich ging der Beamte nicht auf den Kerl ein, sondern ließ mich die hintere Wagentür öffnen. Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich nicht nur die eine Flasche Wein an Bord hatte, die die Zollbestimmungen Marokkos erlauben, sondern vier, so dass ich wegen diesen kleinen Vergehens bereits ein äußerst schlechtes Gewissen hatte. Doch den Beamten interessierte das nicht. Er fragte: „Kalaschnikow?“
Ich sah ihn nur an, musste wirklich ein dummes Grinsen vermeiden und verneinte seine Frage. Am liebsten hätte ich gesagt: „Nee, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Glas Wein einschenken.“
Ich hab’s gelassen, der Beamte interessierte sich nicht weiter, stempelte meine Zollpapiere ab und sagte mir nur „Quitez“, was wirklich so klang wie: „Man, hau blos ab.“ Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und fuhr.
Da meine Versicherung stillschweigend Marokko von der Liste der Länder gestrichen hatte, für die meine Haftpflichtversicherung gilt, musste ich eine sogenannte „Crossboarder-Insurance“ abschließen. Die Stelle dafür lag kurz hinter der Zollabfertigung. Dankeschön, HUK, ich wünschte, ich hätte mich nicht erkundigt, dann hätte ich nämlich Eure Versicherungskarte von 2008 verwenden können, auf der Marokko noch aufgeführt war. Die wäre noch bis 2011 gültig gewesen, so aber ist der, der fragt, der Dumme. Ich also, der diese Karte erst gefunden hat, als ich die neue in den Händen hielt.
Dr Beamte, der die Versicherung ausfüllte, machte ebenfalls Probleme, wollte mir eine Versicherung für die dreifache Summe andrehen, weil mein Fahrzeug als Drei-Sitzer angeblich als LKW galt. Wäre er größer und hätte neun Sitze, wäre er als PKW durchgegangen. Dieser Logik wollte ich nicht folgen und lernte wahrscheinlich meine erste Lektion in einem arabischen Land: stehen bleiben und weiter fragen. Ich musste nicht lange diskutieren, der Beamte hatte sichtlich keine Lust mehr auf meine Gesellschaft und gab mir eine einmonatige Versicherung für an die 1000 Dirham. So hatte ich das letzte Hindernis auf meinem Weg nach Marokko hinter mir und durfte nun das Hafengelände verlassen.
Den Campingplatz fand ich ohne größere Schwierigkeiten, denn mein Bruder Alex hatte Garmin vorher mit einer aus dem Internet heruntergeladenen Marokkokarte gefüttert. Zwar spricht sie nicht mehr mit mir, zeigt mir aber die Zielkoordinaten an, so dass ich wenigstens weiß, in welche Richtung ich fahren muss. Die Koordinaten habe ich aus dem Campingführer Marokkos von Edith Kohlbach, ein sicherlich im Selbstverlag erschienenes Buch, das zwar nicht im flüssigsten Stil geschrieben ist, doch alle notwendigen Informationen enthält, die ich auf meiner Fahrt brauchen werde. Schon bei der ersten Station hat es mir sehr geholfen.

Ich ruhte mich nur für einen Augenblick aus, machte mich dann auf den Weg in die Stadt. Dabei lief ich den Strand entlang, fühlte mich ausgesprochen merkwürdig, weil ich Europa nun auf der anderen Seite des Wassers wusste, mich nun in völlig fremden Gefilden aufhielt, was mich unsicher machte.
Ich kam auch am Hafen vorbei, merkte, dass ich natürlich trotz Garmin einen riesigen Umweg gefahren war, aber das tat nichts zur Sache. Ich erreichte einen riesigen Platz kurz hinter dem Hafen und meinte, dass es sich dabei um den Eingang zur Medina handeln könnte. Ich wagte nicht, meinen Lonely Planet aus der Tasche zu ziehen, weil ich mich damit sofort als Tourist geoutet hätte. Das war natürlich völlig egal, denn das sah trotzdem jeder Marokkaner sofort, was ich in diesem Moment aus unerfindlichen Gründen nicht realisierte. In jedem Fall habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Einheimische mich angesprochen und mir was weiß ich denn angeboten haben. Einige wollten mich in ihr Restaurant hinein ziehen, andere ihren Trödel verkaufen, wieder andere ihre Dienste als Stadtführer. Ich wollte keines dieser Dinge, sondern einfach nur ein wenig Atmosphäre aufsaugen. So machte ich das, was ich auch sonst in diesen Situationen machte, ich grüßte höflich und lehnte mit einem Lächeln auf den Lippen dankend ab, blieb niemals stehen, sondern war immer in Bewegung. Das funktionierte ganz gut, so dass sich meine anfängliche Nervosität legte. Ich hatte vorher viel über diese „Toots“ gelesen und wollte mich nicht noch einmal wie im Hafen über den Tisch ziehen lassen. Zumindest nicht heute.
Was mir bei meinem Gang auffiel, war der Geruch. Es stank sehr stark nach altem Müll und ich dankte meinem Schöpfer, dass er mich nicht mit einem ausgeprägten Geruchssinn ausgestattet hat. Überall wimmelte es von Menschen. Schließlich endete ich auf einer größeren Straße, dem Boulevard du Pasteur und merkte hier, dass ich nicht einmal in der Nähe der der Medina war. Ich trank erst einmal einen Kaffee, denn die Eindrücke des Tages hatten bereits ihre Spuren hinterlassen. Ich versuchte ein wenig zu entspannen, was mir nur halbwegs gelang. Ich saß im Café und stellte fest, dass nicht ich die Menschen beobachtete, sondern diese mich. Fast jeder der vorbei Laufenden musterte mich und das erste Mal in meinem Leben merkte ich, dass ich Ausländer war. Dieses Mustern war niemals feindselig, ich sah in den Augen nichts bösartiges, sondern reine Neugier, vielleicht auch ein Abtasten, ob mit diesem Europäer wohl ein lukratives Geschäft zu machen wäre. Es war eine eigenartige Erfahrung und ich blieb auf der Hut.
Die Medina habe ich letztlich nicht gefunden, ich stiefelte durch die Straßen, saugte die Atmosphäre auf und stieß recht rasch an meine Grenzen für diesen Tag. Ich ging an vielen kleinen Geschäften vorbei, die alle möglichen Dinge des Alltags verkauften – von Obst über Brot bis hin zu elektrischen Artikeln. Was mir auffiel, war das Fehlen von Supermärkten. Irgendwann, nach einigen Kilometern Weg, stand ich an einer Kreuzung, die ich erkannte. Ich war nicht mehr weit entfernt vom Campingplatz und beschloss, es für heute genug sein zu lassen, schon aus dem Grund, weil ich nur in einem T-Shirt unterwegs war und es bereits um 16 Uhr empfindlich kühler wurde. Das erklärt sich dadurch, dass Marokko in derselben Zeitzone ist wie England und an dem Sinn oder Unsinn der europäischen Sommerzeit nicht teilnimmt, so dass zwei Stunden zwischen der westeuropäischen und der Zeit in Marokko liegen. Somit war es in Spanien bereits 18 Uhr, was auch meine relative Müdigkeit erklärte.
Aber ich sagte mir, dass ich endlich angekommen wäre, nun beginnt das Entdecken, somit ist Morgen auch noch ein Tag. Und den werde ich nutzen, um die Medina zu sehen.