Angers

Meine Güte, was für eine Nacht. Abends ging es mir noch, gut, es war nicht warm, aber auch nicht eisig kalt. Das hat sich geändert. Die Temperatur erreichte irgendwann den Gefrierpunkt. Trotz der Tatsache, dass ich im Laufe der Nacht immer mehr Decken in Anspruch genommen habe und mein Schlafsack diesmal bis oben zugezurrt war, kroch die Kälte überall hin. Schon komisch, dass ich nicht einmal auf die simple Idee gekommen bin und mir Socken angezogen habe. Also fror ich mit kalten Füßen. Doch vertrete ich die Theorie, dass das Gehirn bei diesen Temperaturen nur vermindert funktioniert, also noch verminderter als sonst, meine ich. Noch nicht einmal die elementarsten Überlebensinstinkte scheinen zu funktionieren, was mich zu der Annahme bringt, doch nur ein Outdoor-Light-Typ zu sein. Vielleicht sollte ich es darauf beschränken, irgendwo auf einem Campingplatz zu sitzen, an meinem Wein zu schlürfen und die Steaks auf dem Grill umzudrehen. Aber vielleicht sind das jetzt nur die schlechten Erinnerungen an die eisige Kälte der Nacht. Das Aufstehen hat dann am Morgen auch länger gedauert als sonst, die Sonne stand schon hell am Himmel, als ich mich aus meinen vielen Lagen geschält habe. Der Bäcker war nur einige Meter entfernt, frisches Croissant und Baguette, was will man mehr. Mutter und Tochter bedienten mich gleichzeitig, was mich in meinem Zustand völlig überforderte. Ich war froh, aus dem Laden heraus zu sein, denn das war ja peinlich. Ganz eindeutig schläft die Sektion im Gehirn, die für die Sprache zuständig ist, denn es dauerte Ewigkeiten, bis die zugegeben leichten Worte der Bäckersfrauen meine Windungen erreichten und diese in eine einigermaßen verständliche Folge von Worten übersetze.
Das Frühstück erweckte meine Lebensgeister wieder. Ich gönnte mir einen Latte Machiatto und das Croissant im Camper, hielt meine gefrorenen Finger an die heiße Tasse und wartete auf den Koffeinschock, der mir jeden Morgen Leben einhaucht. Ich sah meinem Atem zu, der aufgrund des heißen Getränks noch sichtbarer war als vorher. Und das im Camper. Ich habe gelitten.
Erst spät fuhr ich los, was sich im Laufe des Tages noch rächen sollte. Mein erstes Ziel sollte das Chateau Montgeoffroy sein. Vor 12 Jahren war ich das erste (und letzte) Mal dort. Mich zog eine gewisse Nostalgie dorthin, die man lieber von der Ferne genießen als nochmals suchen sollte. Aber sei es drum, sagte ich mir. Chateau Montgeoffroy ist ein eher unbekanntes Schloss, das bei Weitem nicht die Touristenströme wie Vilandry oder Chenonceau anzieht, was es für einen Reisenden wie mich überaus interessant macht. Ich habe es erst kaum gefunden. Es befindet sich nahe des Ortes Mazé, der nicht direkt an der Loire liegt. Als ich ankam, war es bereits 12 Uhr… und schloss gerade. Erst gegen Nachmittag sollte es wieder öffnen, also viele Stunden später. Ich muss gestehen, dass ich nicht sehr gut darin bin zu warten. Doch spazierte ich eine ellenlange Allee entlang, die gradlinig auf das Chateau zuführt. Hier habe ich zusammen mit drei Freunden vor 12 Jahren ein grandioses Picknick genossen. Wir waren damals alle Studenten in Rennes, alle in einem Auslandssemester in der Bretagne. Der spontane Ausflug damals sollte zu einem herausragenden Ereignis während meines Aufenthaltes in Frankreich werden, an den ich mich noch heute erinnere. Es war einer der ersten wirklich warmen Tage an einem Mai-Samstag. Die Sonne schien ohne Unterlass, so dass wir ein schattiges Plätzchen suchten. Wahrscheinlich war damals wie heute das Chateau gerade geschlossen, so dass wir uns zu diesem spontanen Picknick entschieden hatten. Es war herrlich damals, im hohen Gras an dieser Allee, müßige Stunden ohne Eile, in denen wir unsere Gesellschaft und das gute, französische Essen genossen. An den Besuch im Schloss selbst kann ich mich kaum erinnern, nur dass mich die Küche so beeindruckt haben muss, denn ich habe noch heute Bilder vor Augen. Dutzende kupferner Pfannen und Töpfe hingen dort an den Wänden. Diese Küche wollte ich eigentlich sehen, um mir Ideen bei der Einrichtung für meine Traumküche in der Zukunft zu holen. Das musste erst einmal warten, denn ich wollte nicht stundenlang vor dem Chateau herumhängen, nur um auf die nächste Führung zu warten. Mir hat es gereicht, mich ein wenig an die Vergangenheit zu erinnern und an die Freunde, von denen ich seit 10 Jahren nichts mehr gehört hatte. Doch das war nicht wichtig, denn wichtig ist der Augenblick wie vor 12 Jahren, die Stunden, die wir gemeinsam haben verbringen dürfen, die Momente, in denen sich unsere Lebenswege gekreuzt hatten, auch wenn sie danach in andere Richtungen führten. Erinnerungen, die wir ab und zu wieder hervor holen, um uns daran zu erfreuen. Dafür hat meine Zeit hier gereicht, eine halbe Stunde war ich wieder 28, ein junger, unerfahrener Grünschnabel, der sich lange Zeit dagegen gewehrt hatte, erwachsen zu werden. Zu Recht. Denn so grandios ist das nicht.

Château Mongeoffroy

Auf einen weiteren Teil meiner Vergangenheit freute ich mich ungemein, denn er hat es geschafft, bis in die Gegenwart zu überdauern. Heute Abend werde ich Laurence wieder sehen, auch eine Freundin aus meiner Zeit in Rennes, zu der ich immer noch Kontakt habe. Sie ist, so möchte ich es sagen, meine beste Freundin. Und das seit zwölf Jahren. Die Entfernung und die Zeit hat unserer Freundschaft nichts anhaben können, selbst die Tatsache, dass ich sie fast 4 Jahre nicht gesehen hatte. Es ist eine dieser unkomplizierten Freundschaften, die nichts verlangen außer der Freundschaft selbst. Sie ist frei von Eifersucht, frei von Verlangen oder Manipulation. Sie ist einfach nur da, so wie sie ist. Und sie zeigt mir, dass wir uns eigentlich auch im Laufe der Zeit nicht verändern, denn wenn wir uns treffen, ist es so, als wenn wir niemals getrennt gewesen wären. Natürlich haben wir uns entwickelt, unser Leben geplant und ich kann sagen, dass es für uns beide spannend ist, den anderen dabei zu beobachten. Laurence hat geheiratet, auch einen Freund von uns beiden aus Rennes. Die Zwei haben inzwischen zwei Kinder und ein Haus bei Nantes. Sie lebt ihr Leben so natürlich, wie ich es von ihr gewohnt bin, geht ihren Weg, sicher mit Zweifeln und Irrungen wie jeder, doch ohne Reue. Das haben wir gemeinsam, auch wenn mein Weg völlig anders aussieht als ihrer. Den kleinen Umweg auf meinem Weg nach Spanien fahre ich gerne, denn wir müssen jede Gelegenheit nutzen, uns zu sehen. Gelegenheiten, die erfahrungsgemäß sehr selten kommen. Vielleicht gönnt uns Easyjet oder Ryanair in der Zukunft einmal eine günstige Flugverbindung, die es dem einen oder anderen ermöglicht, einfach mal vorbei zu schauen. Für den Moment ist es jedoch, wie es ist. Auf das Treffen heute Abend freue ich mich wahnsinnig, ich habe vor, zwei Tage zu bleiben.
Im Moment sitze ich in einem Café in Angers. Meinen Rough Guide von Frankreich konnte ich im Camper nicht finden, obwohl er da sein muss. So etwas muss geschehen, der taucht schon wieder auf. Angers ist eine wirklich nette Stadt, sehr lebendig und logisch gebaut mit geraden Straßenlinien, die selbst ich verstehe. Ich finde, sie hat Ähnlichkeit mit Rennes, es gibt einige sehenswerte Fachwerkhäuser, die völlig windschief die Jahrhunderte überdauert haben. In Frankreich wird anscheinend überall gebaut, denn der Place du Ralliement war eine einzige Baustelle. Er muss grandios aussehen, wenn er fertig ist, ich bin mir sicher.
Die Kathedrale habe ich nur zufällig gefunden. Anscheinend ist sie für ihre Fenster berühmt, die allerlei Martyrien von Heilgen zeigen, und das ausgesprochen plastisch. Mir kam der Gedanke, dass die Meister der damaligen Zeit ähnlich wie heutige Filmregisseure arbeiteten. Heute der Actionstreifen, damals ein dramatisches Fensterbild, frei nach dem Motto: „Lasst uns mal ein bisschen Blut zeigen. Häuten? Nein, das hatten wir noch nicht. Das machen wir mal so….“
Ansonsten widme ich mich hier meiner Lieblingsbeschäftigung: in einem Café zu sitzen, zu schrieben und Leuten dabei zuzusehen, wie sie selbst sind…

Angers