Rye & Sissinghurst
Wir fuhren gestern direkt von der Fähre auf einen Campingplatz. Nach dem ersten Reisetag, an dem ich gut durchgehalten und viele Kilometer geschafft hatte, musste ich dem Tempo doch Tribut zollen. Denn schon am Nachmittag fühlte ich mich ausgelaugt und körperlich überanstrengt. Trotzdem machten wir uns nach einer kurzen Ruhepause auf den Weg zum Strand. Den fanden wir leider nicht, sondern nur eine Art Promenade vor einer recht wilden Küste, die zum größten Teil aus Gesteinsbrocken bestand, um die Wellen zu brechen. Der Atlantik war recht ruhig, doch trotzdem kein Vergleich zum sanften Mittelmeer. In den nächsten Augenblicken, vielleicht um uns willkommen zu heißen brach die Wolkendecke auf und die Sonne zeigte sich. Sie hat hier in England eine ganz andere Intensität, ist lieblicher, beinahe immer von Wolken umgeben, so dass man die ganze Bewegung und Dynamik der Lüfte sehen und fühlen kann. Es ist Leben.
Very much so.
Wir waren also wieder zuhause, zumindest auf eine gewisse Art.
Da unser Spaziergang an einer Militäranlage endete, beschlossen wir, nach Hythe zu fahren, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Das ruhige Seebad schien uns genau das Richtige. Ohne es zu wissen, hatten wir uns einen Bank Holiday (Feiertag) ausgesucht, so dass im Ort kaum etwas los war. Uns war es recht, so schlenderten wir durch die leblose Highstreet, kamen an all den alten Geschäften wie Boots, WH Smith und diversen Charity Shops vorbei, ehe wir am Cricket Ground vorbei zum Meer liefen. Die Strandpromenade hier war genau das, was Nina und ich an diesem Tag noch gebraucht hatten. Der markige Kieselstrand, an dem sich die Wellen brachen, der stetige Wind in den Haaren und der Duft des Atlantiks erfrischte uns. Nirgends sonst sind die Elemente so verbunden mit unseren Seelen. Wie lange haben wir beide darauf verzichtet.
Als wir auf den Campingplatz zurückkehrten, wurde mir bewusst, dass die englische Gesellschaft durchaus ihre harten Seiten hat, denn drei Prekarier – alle nicht älter als 20 – hatten sich unseres Tisches und eines Campingstuhls bemächtigt, die wir auf dem Platz zurückgelassen hatten. Ohne lange Reden rückten sie sie wieder heraus, was durchaus nicht immer geschieht. Ich hatte es fast vergessen, wie sehr man in England achtgeben muss. Es deckt sich aber mit unseren Erfahrungen.
Die Nacht begann sehr früh, schon um acht konnten wir die Augen kaum noch offen halten. Um neun dann schlossen wir sie. Ich schob es auf den Jetlag, immerhin mussten wir eine ganze Stunde aufholen.
Rye
Nicht vor halb acht schlugen wir die Augen wieder auf. Die Sonne begrüßte uns, ohne allzu stark zu scheinen. Der Campingplatz hielt uns nicht sehr lange fest. Ich mag so etwas, ein sicherer Ort ohne viel Getue.
Wir besprachen, was wir heute unternehmen wollten. Wieder fiel uns auf, wie reich England an Kulturschätzen ist, denn selbst auf den im Vergleich winzigen Flächen haben wir die freie Auswahl an Gärten, Städten und Herrenhäusern. Letztlich entschlossen wir uns, nach Rye zu fahren, einem historischen Ort, den wir vor vielen Jahren besucht hatten Nach nicht einmal einer halben Stunde erreichten wir ihn. Das Auto parkten wir in einer Wohngegend unweit des Zentrums, immer ein Geheimtipp, denn die von der Stadt angelegten Parkplätze wiesen alle die üblichen Barrieren auf, die den Zugang für Fahrzeuge über zwei Meter Höhe unmöglich machten. Immerhin hatten wir den Vorteil, dass wir auf diese Weise gratis parkten.
Rye selbst war der perfekte Ort für den ersten Tag. Die herrlichen Plasterstraßen, Tudorhäuser mit ihren verwitterten, alten Holzpfählen, die die Jahrhunderte gebeugt haben. Und nicht zu vergessen die eleganten Georgianischen Gebäude mit ihrer aufgelockerten Strenge. Dazu kam alles, was unser Herz begehrte, Teestuben und Souvenirshops mit dem üblichen Kitsch wie Lavendelseife bis hin zu Briefbeschwerer mit einem Foto der kürzlich verheirateten Thronerben, Kate und William. Der Friedhof aber tat es mir ganz besonders an. Die alten Grabsteine standen schief und krumm, die Schriften waren nicht mehr zu lesen. Die Bäume spendeten Schatten und schufen zusammen mit den Sonnenstrahlen eine immens heitere und friedliche Atmosphäre. Nirgends wird deutlicher, wie sehr die Ordnung, wie sie zum Beispiel auf deutschen Friedhöfen herrscht, leb- und charakterlos wirkt. Hier in England gewinnt der Tod somit etwas Atmosphärisches und sei es nur durch die wilde Unordnung, die die Kräfte der Natur im Laufe der Jahrhunderte geschaffen hat.
Wir besichtigten noch einige historische Gebäude, unter anderem ein Wehrturm, der so aussah wie ein kleiner Tower of London. Von hier hatten wir einen wundervollen Ausblick auf die Flussmündung und das ferne Meer. Die flachen Salzwiesen um die Stadt herum beherbergten eine Menge Schafe. Das Blöcken habe ich jetzt noch im Ohr.
Dann ging es weiter. Auf Landstraßen, entlang vieler alter Dörfer mit den typischen Pubs mit Namen wie Duke of Wellington oder Bedford Arms, erreichten wir Sissinghurst, eine Perle selbst unter den majestätischen Stätten, die vom National Trust betreut werden. Ohne lange nachzudenken kauften wir von einer freundlichen alten Lady eine Jahresmitgliedschaft, die es uns ermöglicht, alle National Trust Stätten in England zu besichtigen. Für mich gehört diese Organisation zu den Prunkstücken der englischen Gesellschaft. Nirgends sonst kann man für so wenig Geld so viel anschauen und gleichzeitig Gutes tun. Die Pflege der kulturellen und historischen Bauwerke und Gärten ist hier so entwickelt wie nirgends in Europa. Und das Schöne ist, dass Freiwillige hier arbeiten, meist Rentner, die mit so viel Lust und Laune dabei sind, dass es jedes Mal eine Freude ist, eine dieser Stätten zu besichtigen.
Sissinghurt hielt, was es versprach. Das Geburtshaus von Vita Sackwell-West, der ehemaligen Geliebten von Virginia Wolf, ist ein Ort von bemerkenswerter Schönheit und Stille. Besonders die Gärten sind ein Höhepunkt, die ihresgleichen suchen. Sie sind in verschiedenen Themen aufgeteilt, nach Farben geordnet und sind ein wahres Paradies an bunten Farben und betörenden Düften. Rosen ranken Jahrhunderte alte Tudor-Mauern empor, ein Dutzend Minzsorte, Thymian und Rosmarin im Küchengarten und Lilien ließen uns gar nicht wissen, wo wir als Erstes hinschauen sollten. Blickpunkt bildet dabei immer das Torhaus in der Mitte des Gartens, das einst Wirkungsstätte der Schriftstellerin war. Der Geruch von alten Büchern kam uns schon auf der Wendeltreppe entgegen. Es ist ein schöner Ort, um zu schreiben.
Wir liegen gerade auf der Wiese vor dem Garten, ich schreibe und Nina genießt den Sonnenschein, der uns beglückt. Nur um es auch zu erwähnen, vorhin hat es nicht nur geregnet, sondern auch noch gehagelt. Typisch englisches Wetter eben. Aber die Sonne ist eben auch immer mit dabei.
Es lässt sich aushalten.