Ferrara
Ich will nicht voreilig sein, doch scheint die Operation Healthy Backside geglückt, denn ich erwachte heute Morgen ohne das mich sonst ständig weckende Ziehen in der Rückengegend. Sicher ist es zu früh, endgültig sicher zu sein, aber ich bin doch schon froh, dass es am Ende so einfach gewesen sein könnte, ein Problem zu lösen. Es ärgert mich nur ein wenig, dass ich mich vor drei Monaten noch nicht habe dazu entschließen können. Aber so sollte es sein.
Bereits um acht Uhr war es so heiß, dass es kaum auszuhalten war. Vorbei sind anscheinend die Tage, an denen mich Temperaturen von nichts, aber auch gar nichts abgehalten haben. Ich beeilte mich, um möglichst schnell in die Stadt zu kommen, die vormittäglichen Stunden waren vielleicht noch zu ertragen. Als ich erst einmal auf dem Weg war, mir der Fahrtwind – vom Fahrrad – ins Gesicht blies, war es angenehmer. Bald schon gelangte ich auf eine Art Hauptstraße, boulevardähnlich, hier allerdings mit Kopfsteinpflaster bedeckt, den Corso Ercole I D’Este. Flankiert wurde er mit einer Reihe Palastartiger Renaissance-Gebäude, sicher alle von der Familie D’Este gebaut, die die Stadt auf die kulturelle Landkarte gebracht haben. Überhaupt ist das eine Familie nach meinem Geschmack, schlau, gerissen, gewalttätig, skrupellos, kulturell gebildet und als Mäzen auftretend, alles also, was eine Renaissance – Familie erfolgreich machen konnte. Macciavelli hätte durchaus den einen oder anderen D’Este als Vorbild nehmen können. Die Schwester des Cesare, Lucrezia Borgia, war mit Alfons I. verheiratet, was wahrscheinlich der Grund war, weshalb ich hergekommen bin, denn bevor ich angefangen habe zu lesen, war das der einzige Fakt, den ich von Ferrara kannte.
Der Boulevard führte geradewegs auf ein Kastell zu, ein klobiges Gebäude, düster, aus rotem Backstein und in anderen Zeiten sicher schwer einzunehmen. Selbst heute noch sind die Festungsgräben erhalten.
Nicht weit davon entfernt liegt der Dom, ein altes, windschiefes Bauwerk, das sehr viel Charisma ausstrahlt. Es ist ein ehrwürdiges Haus, mächtig, die Fassade mit Marmor oder anderem wertvollen Stein verziert. Besonders bemerkenswert ist das Portico, neben einigen üblichen Heiligenstatuen konnte ich auch eine beeindruckende Darstellung des Jüngsten Gerichts bewundern. Links liefen die Erleuchteten, alle bis oben hin zugeknöpft mit beseelten Blicken. Rechts die Verdammten, alle nackt, unglücklich, leidend. Ich musste lachen, denn wer weiß schon, wer am Ende mehr Spaß haben würde, die moralisch einwandfreien Geretteten oder die, bei denen ohnehin schon alles verloren ist. Leider ist der Bau von Innen eher langweilig, hält nicht, was er verspricht. Ich glaube, es ist eine Art barocker Stil, viel zu verziert, was der verwitterten und alten Fassade nicht gerecht wird. Faszinierend sieht der Dom auch von der Seite aus, ein riesiger Platz erlaubt es, ihn fast in der ganzen Länge zu betrachten. Dabei empfand ich die Profanität dieser Seite des Doms bemerkenswert, denn die hübschen Säulenreihen außen führen alle zu Shops, was hier aber erstaunlicherweise durchaus passt. Etwas weiter hinten steht ein Turm, ich nehme an der Campanile, der mit seiner Schiefheit seinem Bruder in Pisa in fast nichts nachsteht, auch wenn er bei Weitem nicht so prächtig ist.
Ich stürzte mich jetzt in die Altstadt, die um diese Zeit mit Leben erfüllt war. Dank meines frühen Aufbruchs war es erst ca. 10:30, die Geschäfte hatten alle noch geöffnet und die Gassen waren belebt. Wie auch schon beim Dom sah ich schier endlose Säulenreihen, hinter denen sich Geschäfte verbargen, hier auf der Straße Corso Porta Reno. Auch Ferrara ist eine Art Freilicht-Museum, in dem die Menschen leben. Die Wohnungen sind alle in den oberen Etagen, zu gerne wäre ich einmal in eines dieser Jahrhunderte alten Häuser gegangen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie es sein muss, hier zu wohnen. Ab und zu bekommt man zumindest die Gelegenheit, einen raschen Blick in einen Innenhof zu werfen, manchmal befinden sich dort kleine Gärten, Paradiese im Mini-Format. Herrlich.
Die vom Rough Guide empfohlene Gasse, Via Volte, empfand ich dagegen als etwas langweilig, zwar ist es auch eine historische Straße, die zum Teil von Bögen überdacht ist, aber meiner Meinung nach fehlt die lebendige Ausstrahlung. Es ist eben eine Wohngegend, keine Einkaufsstraße. Einen Spaziergang wert ist sie trotzdem. Ich lief noch ein wenig durch die Stadt, bevor ich mich zu einer Schreibsession in ein Café setzte. Allerdings war ich schon nach kurzer Zeit abgelenkt, denn die Straße, auf der ich nun saß, war sehr belebt und es ist wundervoll, Menschen einfach zu beobachten, während sie ihren Tätigkeiten nachgehen.
Vielleicht lag es auch daran, dass mir die Szene, die ich mir vorgenommen hatte zu schreiben, nicht recht lag. Jedenfalls verbrachte ich eine geraume Zeit für nur wenige Worte. Ich beschloss daher, meine Arbeitsstätte an einen Ort zu verlegen, den ich völlig uninteressant fand. Ich ging also zu McDonalds, um ein Eis zu essen. Zwar gab es dort eine Wifi-Verbindung, die allerdings nur zu erreichen ist, wenn man ein italienisches Handy hat, an das das Passwort geschickt werden kann. Auch eine Art der Ungleichbehandlung.
Also konnte ich mich in Ruhe dieser schwierigen Passage widmen, die Menschen hier interessierten mich nicht, das Internet konnte mich nicht ablenken, also stand einer effizienten Arbeit nichts mehr im Weg.
Als ich fertig war, brannte die Sonne in voller Stärke. Kaum jemand war noch auf der Straße, nur einige bekloppte Touristen, mich eingeschlossen. Die Geschäfte waren alle zu, die Italiener hielten sich bestimmt irgendwo in einem klimatisierten Gebäude oder auf einer schattigen Terrasse mit leichtem oder weniger leichtem Lunch auf. Ich zog noch ein wenig durch die Gassen, bis mich die Hitze fast in die Knie zwang. Unterwegs lief ich noch bei Certosa vorbei, einer eindrucksvollen kirchlichen Anlage, sicher einmal eine Art Kloster. Jetzt ist es ein Friedhof, wie ich gesehen habe, weitläufig und friedlich.
Ich weiß auch nicht, warum mich so etwas immer so fasziniert. Vielleicht weil man Tragödien an den Grabsteinen ablesen kann. Ich weiß, dass ich selbst ein eher merkwürdiges Verhältnis zum Tod habe, nicht, was das Sterben selbst betrifft, sondern was es mit denjenigen macht, die zurückbleiben. Hier, auf diese Friedhöfe, zieht mich besonders hin. Die Toten haben hier Gesichter, denn die Grabsteine sind mit ihren Fotos aus guten Zeiten geschmückt. Ich sah einen Grabstein, uralt, die Eltern waren um die 1880 geboren. Sie hatten drei Kinder. Eine Tochter war nicht einmal dreißig geworden, und es sind Tragödien wie diese, auf die ich immer wieder aufmerksam werde. Man schaut in das Gesicht des Vaters, der Mutter, weiß, dass diese ihre jüngste Tochter so früh verloren haben. Wie groß muss dieser Schmerz gewesen sein.
Am Ende ist es alles einerlei, denn auch die anderen Geschwister sind bereits seit über zwanzig Jahren tot. Aber die Tragödie von vor über siebzig Jahren, die ist noch immer hier eingemeißelt.
Ich kam gegen Nachmittag auf dem Campingplatz an, ein Schwarm Mücken begrüßte mich. Ich nahm mir Zeit, um mir deren Werk vom Vorabend anzuschauen, zählte über zwanzig Stiche allein an meinem Knöchel. Ich weiß, dass ich selbst auf dem Rücken einige habe. Zum Glück bin ich nicht sehr beeindruckt von Juckreizen, wäre Nina hier, wir hätten heute sicher zu einem Arzt gehen müssen.
Morgen geht es weiter, Richtung Padua und Venedig. Sollte diese Hitze anhalten, fahre ich wieder in die Berge. In den Alpen ist es sicher angenehmer.