Gibraltar

Der Himmel heute Morgen weinte bitterlich und goss seine perlengroßen Tropfen auf mich hernieder. Etwas theatralisch nahm ich also Abschied vom Süden, zumindest vorerst, denn ab jetzt würde mich mein Weg wieder in den Norden führen. Eigentlich hatte dieser Prozess bereits in Erg Chebbi begonnen, doch es fühlte sich heute so an als würde ein Abschnitt zu Ende gehen.
Eigentlich weckte mich nicht der Regen, sondern ein merkwürdiges Geräusch, dass sich als SMS entpuppte. In der Hoffnung, das verlorene Paket mit der Kamera wäre aufgetaucht, an meinem Glück mit diesen Dingern scheine ich noch arbeiten zu müssen, schaute ich fast ein wenig verschreckt auf die Nachricht. Es war nicht das Paket, doch Nina teilte mir mit, dass sie endlich ihren Festvertrag bei der Firma, für die sie lange in „Arbeitnehmerüberlassung“ (ein furchtbares Wort) gearbeitet hatte, bekommen würde. Zeit wurde es, trotzdem eine tolle Nachricht, und wie es so ist, feiere ich sie gerade in einer Strandbar, mit Palmen um mich herum und einer leichten Brise, die das Wasser sanft bewegt.
Durch den Regen heute Morgen hatte ich Zeit und machte mich somit recht spät auf den Weg. Da meine Vorräte langsam zur Neige gingen, beschloss ich, nachzuladen. Der Discounter um die Ecke war allerdings so langweilig, dass ich kaum etwas kaufte. Warum weiß ich nicht, aber alles schien mir so einfallslos, so eintönig. Dabei gab es die gleichen Produkte, die es auch in Deutschland gibt, was meine Unzufriedenheit vielleicht erklärt. Ich ging in den Lebensmittelladen daneben, kaufte frischen spanischen Käse und frisches Brot. Ganz ehrlich, mehr brauche ich nicht zum Leben, vielleicht noch ein wenig Tomatensalat und Olivenöl, dann ist alles gut.
Frisch gestärkt brach ich auf Richtung Gibraltar, die englische Enklave im Mittelmeer. Schon von Weitem, bei der Einfahrt nach Algeciras, sieht man „The Rock“, der wie ein Stück hingeschmissener Felsen ins Meer hinein ragt. Afrika ist nur wenige Kilometer entfernt, doch schwere Wolken ließen mich vorerst nichts erkennen. Ich parkte recht weit außerhalb in Linea, lief dann Richtung Grenze. Es war ein eigenartiges Gefühl, wieder englischen Boden zu betreten. Nach mehr als drei Jahren war es soweit, doch fühlte es sich nicht so an, zu unwahrscheinlich ist „The Englishness“ Gibraltars. Nach einer kurzen Passkontrolle liefen wir Besucher über das Rollfeld des Flughafens, kaum mehr als ein Stück geteerte Fläche vor dem Felsen, der sich immer majestätischer in den Himmel erhob. Die Stadt betrat ich durch ein Tor mit einem finsteren Gang dahinter und befand mich danach bald auf der High Street. Hier sah es wirklich sehr englisch aus, beinahe zu sehr. Ich sah viele rote Telefonzellen, mehr als in London. Die Mülleimer waren die gleichen, die Pubs hießen „Nelson“ und glichen denen auf der Insel, die Shopketten waren alle vertreten, es gab BHS, Marks&Spencer, NatWest erkannte ich sofort. Überall hingen prall gefüllte Hängekörbe mit Blumen an den Laternenpfählen, Fish&Chips-Läden boten ihr leckeres Fastfood an, dem ich widerstand.
Etwas stimmte nicht. Es war einfach ein bisschen zu perfekt. Die Teenager benahmen sich, die Straßen waren sauber, viel zu sauber, die Leute, die nicht Touristen waren, sahen alles andere als englisch aus, auch wenn sie sich bemühten, in bestem Oxforddialekt zu reden. Die meisten waren sicherlich spanischer Abstammung oder etwas anderes. Trotzdem genoss ich es, ich schaute mir die Etiketten in den Läden an, alle in Pfund, wenn auch nur das „Gibraltar Pound“, nicht das britische. Als ich durch die Stadt durchgegangen war, kam ich irgendwann bei der Hochbahn an, die Leute für ein kleines Vermögen auf den „Rock“ beförderte. Mein mir angeborener Geiz ließ mich natürlich sofort einen Schritt zurückweichen. Es gab sichere einen anderen Weg. Und was war es schon wert, auf einen Berg zu fahren. Erklommen muss er werden. Mit Schweiß und Muskelkater bezwungen. So etwas rede ich mir immer ein, wenn ich zu geizig bin, obwohl ich es mittlerweile sogar glaube. Aber dazu später. Der Rough Guide – ja, ich habe ihn jetzt, für Spanien wandle ich wieder in bekannten Gefilden, in mehr als einer Beziehung – hat eine sehr detaillierte Karte, so dass ich ziemlich sicher meinen Weg fand. Langsam schraubte ich mich den Berg hoch, musste irgendwann doch noch Eintritt zahlen, weil es in ein Naturreservat ging, aber den Euro konnte ich verschmerzen. Irgendwann kamen die Affen. Wahrscheinlich haben die Araber, als sie Spanien besetzt hatte, diese als Haustiere mitgebracht, es sind – wie ich gelesen habe – die gleichen wie in Marokko, also Berberaffen. Freche Viecher, die sich völlig an den Menschen gewöhnt haben. Ich sah so manches Auto, das jetzt nur noch einen Scheibenwischer hat, weil die Affen sich an etwas festhalten müssen, wenn sie auf de Fahrzeuge klettern.

Langsam stieg ich immer höher, sah bereits die Seilbahn und mein Ziel, deren Ankunftsterminal, ein wenig über mir. Die Aussicht von hier war am Ende berauschend. Auf der einen Seite der Golf von Algeciras, etwas weiter die zweite Säule des Herkules auf marokkanischer Seite den Dschebel Musa, wieder auf einer anderen das offene Mittelmeer, mein eigentliches Thema dieser Reise. Jetzt verstand ich, warum es gut war, gewandert zu sein. Gipfel müssen wirklich erkämpft werden, in jeder Beziehung, ob es sich um echte Berge oder menschliche Grenzerfahrungen mit sich selbst handelt. Nichts ist so schön wie nach dieser Anstrengung oben zu stehen, inne zu halten und seinen Weg zu betrachten. Eine Seilbahn kann dieses Erlebnis nicht ersetzen, weder hier in Gibraltar noch sonst, denn niemals wird man es würdigen können, denn die Leistung ist die einer Maschine. Oder die von anderen Menschen.
Erst beim Abstieg merkte ich die Anstrengung, meine Beine fühlen sich einmal mehr wie Gelee an, was zu einer Art Dauerzustand zu werden scheint. Es tut mir gut, das weiß ich, denn meine Oberschenkel haben sicher bereits an Umfang gewonnen und ich rede nicht von Pölsterchen. Dafür schwindet mein Rettungsring merklich und ich denke, bis Juni könnte er der Vergangenheit angehören. Mal sehen, ob das spanische Essen – oder wichtiger, der spanische Wein – mir hier einen Strich durch die Rechnung macht.
Ich schaffte es ziemlich erschöpft nach unten. Mehr als fünf Stunden hatte ich hier zugebracht, schleppte mich jetzt zurück zum Camper und fuhr noch ein ganzes Stück weiter nach Estepona, wo ich den Camper abstellte. Jetzt nach einem Strandspaziergang schaue ich zurück auf „The Rock“ und zu meinem absoluten Erstaunen, sehe ich auch das marokkanische Gegenstück, den Dschebel Musa. Es wird der letzte Blick auf Afrika sein, denn bald schon werden die Säulen des Herkules verschwinden, definitiv morgen. Der marokkanische Berg ist kaum noch zu erkennen, befindet sich im Dunst des Meeres und der Wolken. Genauso wie meine Erinnerungen an die letzten Wochen, die verblassen, auch wenn ich sie festhalten will. Doch diesmal habe ich es anders gemacht, und wie wichtig das ist, wird mir wieder einmal bewusst. Wenn ich die Zeilen irgendwann überarbeite, werde ich im Geiste diese Reise nochmals erleben. Das, was wichtig war, habe ich aufgeschrieben, so ausführlich ich es eben vermocht hatte.
Vielleicht möchten es eines Tages auch andere lesen, doch das ist wieder einmal eher die Eitelkeit, die aus mir spricht, denn wirklich wichtig ist es nicht. Dafür aber muss ich sagen, dass eine Geschichte in mir heranreift, die ich sicher bald beginnen werde zu schreiben. Anders als sonst – ich starte gerne durch – werde ich sie aber noch etwas reifen lassen. Vielleicht kann ich sie dann fast wie in einem Stück hinunter schreiben. Ich denke schon.
Für heute ist es genug, der Barmann will schließen. Ich respektiere seinen Feierabend.