Padua

Ein noch anderer alter Bekannter hat sich zurückgemeldet: der Schmerz in meinem Rücken. Direkt im Kreuz und kaum zu ignorieren. Ein Gutes hatte die Geschichte, denn dadurch war ich um sieben Uhr wach, so früh wie schon lange nicht mehr. Dass ich allerdings sehr viel Zeit mit dem allgemeinen Mensch-Werden nach einer schwül-heißen Nacht und der Pflege meiner neuen, gestern Abend hinzugekommenen Mückenstich verplemperte, wurde es doch wieder später als ich wollte. Padua oder Venedig hieß heute die Wahl, ich entschied mich für Ersteres, denn die venezianischen Pfade schienen für mich allzu stark ausgetreten. In Padua war ich schon einmal, es ist allerdings zwölf Jahre her und ich erinnere mich an so gut wie nichts mehr, außer an eine völlig übertriebene Kirche mit einer Heilgenverehrung, der ich schon damals, in Zeiten des Höhepunkts meiner klerikalen Kunstjagd, nichts abgewinnen konnte. Doch ließ ich mich nicht schrecken, denn auch die Beschreibungen des Rough Guides waren nicht herausragend.

Eine Stunde war ich vom Campingplatz aus mit dem Bus unterwegs, die Uhr zeigte zehn und es brannte bereits sehr heiß, so dass selbst die Italiener schimpften. So etwas rückt die Temperaturen wieder ins rechte Licht und ich komme mir weniger wehleidig vor, wenn ich unter ihnen, denn Sonnenverwöhnten, leide.
Die Ankunft auf dem Busbahnhof war wie immer relativ hässlich, doch habe ich gelernt, mich durch industrielle Speckgürtel durchzukämpfen, bevor ich die begehrten Zentren erreiche. Fast ein wenig wie bei Artischocken, erst das Herz ist die Belohnung. Ohne meiner Umgebung besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken, lief ich los und hätte um ein Haar eines der herausragenden Kunstwerke Giottos verpasst, der hier die Friese einer Kapelle bemalt hat. Dass ich überhaupt drauf aufmerksam geworden bin, lag in der zufälligen Entdeckung der römischen Arena. Im Grunde waren es nur drei Bögen in einer Mauer, diese aber wölbte sich amphitheatrisch, so dass ich neugierig wurde. In dem Park, der in dem antiken Bauwerk angelegt ist, befindet sich auch die besagte Kapelle. Allerdings blieb es bei dem Auslassen dieses Objekts, den zum Einen beeindruckten mich die Eintrittspreise, die ganz sicher wie überall in Italien auf höchstem Niveau sind, zum Anderen schreckte mich die Beschreibung des Ablaufs eines Besuchs dieser Kapelle ab, die ich im Rough Guide fand und die ich aus dem ersten Grund nicht weiter in Frage stellte. Demnach muss man in der Saison mindestens drei Tage vorher reservieren, um dann irgendwann für eine Viertelstunde das Meisterwerk ansehen zu dürfen. Tolle Angelegenheit, dafür dann 10 Euro Eintritt zu zahlen, also beließ ich es dabei. Doch schaute ich mir auf einer Fototafel vor der Kapelle die Fresken an. Wie sagte Egon Friedel einmal? Selbst durch eine schlechte Kopie wird das Meisterwerk immer noch hindurchscheinen. Ich stimme vollständig zu. Und wenn das Werk so gefährdet ist, was ich auch nicht infrage stelle, warum zeigt man den Touristen das Original, warum kreiert man nicht eine herausragende Kopie, schützt somit am Ende die Fresken und die eigene Kasse. Das machen die Franzosen bei den Höhlenmalereien im Perigord oder die Ägypter im Tal der Könige auch. Vielleicht würden diese 10 Euro dann auch zeitlich abgegolten, nicht nur für 15 Minuten.
So also setzte ich meinen Weg fort und kam ins Zentrum. Meine Ankunft feierte ich mit einem Espresso Macchiato, mein Lieblingsgetränk, wenn es um Kaffee geht. Warum ich mir erst jetzt einen gegönnt habe und nicht schon vor 12 Tagen, als ich hier in Italien ankam, kann ich nur auf meine Schusseligkeit zurück führen ich hatte es schlichtweg vergessen. Ich bin schon ein eigenartiger Geselle.

Ich glaube, dass Padua eine der schönsten Altstädte in Italien hat. Ich erlebte eine heitere Atmosphäre, jeder ging hier seiner Tätigkeit nach, ohne Eile, gut gelaunt, und vor allem – es waren fast nur Italiener. Die Touristen sind alle in Venedig, hier findet kaum jemand hin. Was mich besonders beeindruckte, waren natürlich neben den alten Gebäuden die Bürgersteige, von denen so viele in kilometerlangen Säulenreihen liegen. Da macht das Schaufenstershoppen noch wesentlich mehr Spaß. Ich bemerkte bei dieser Angelegenheit, dass Padua sicher ausgesprochen wohlhabend ist, denn die Geschäfte boten alles auf, was ich mir in meinem Leben niemals werde leisten können. Ich werde nicht oft in Versuchung geführt, denn das Meiste, was man in Schaufenstern findet, finde ich geschmacklos. Hier nicht, besonders legere Jackets und Hemden hatten es mir heute angetan. Und dass ich italienische Schuhe liebe, besonders hellbraune schlanke, die diese zeitlose Eleganz in sich tragen, ist kein Geheimnis.
Irgendwann landete ich auf dem Piazza del Erbe, fand dort nicht nur das gigantische Rathaus, sondern auch einen Markt. Meine Güte, so viel frisches, knackiges Gemüse. Padua ist eben auch eine der ältesten Universitätsstädte. Und so manch reifes Früchtchen war auch dabei, also gönnte ich mir zwei Pfirsiche.
Ich bin ein ausgesprochen schlammpiger Esser, will sagen, dadurch, dass ich immer etwas nebenbei mache, lese oder schlimmer, schreibe, habe ich jahrelang nicht auf meine Essgewohnheiten geachtet, die dadurch definitiv gelitten haben. Kaum jemals komme ich ohne kleckern aus, meist muss ich mein T-Shirt oder die Hose nach dem Essen waschen, denn befleckt sind sie ganz sicher. Der Pfirsich heute brachte mich an den Rande meiner Fähigkeiten, zeigte mir unverhohlen, dass ich wohl wieder etwas auf meine Esskultur werde achten müssen. Er war groß, saftig und recht weich, so dass die Frucht schon beim ersten Bissen etwas angedetscht war und mir der Saft die Mundwinkel hinunter lief. Wie meine Hände aussahen, brauche ich nicht zu erwähnen, die waren jedenfalls sofort klebrig. An ein Taschentuch hatte ich nicht gedacht, es hätte mir vielleicht etwas von der bereits verlorenen Würde zurückgegeben. Aber jetzt war es zu spät. Den schönen Pfirsich wegzuwerfen, wäre eine Option gewesen, aber so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben. Also kämpfte ich weiter, gegen die Säfte, gegen die Klebrigkeit, gegen mich selbst. Am Ende hatte ich ihn verspeist, sah natürlich aus, wie ich eben aussehe, nachdem ich einen saftigen Pfirsich gegessen habe. Beschmaddert eben. Doch muss ich sagen, dass mir dieser kleine kulinarische Genuss durchaus Spaß gemacht hat, denn das musste ich zugeben, die Frucht war vorzüglich. Ich habe noch eine, für heute Abend. Diesmal werde ich sie vorher mit einem Messer zerteilen, das ist sicherer.

Ich setzte meinen Weg durch Padua fort. Im Grunde sind es wie in Venedig die Kleinigkeiten, die einen verzaubern können. Ich sah verwitterte Wappen, beeindruckende Tore, deren Holztüren so alt waren, dass man die Schwärze von den Eisennieten vom Holz kaum mehr unterscheiden konnte. Da es so viele Säulengänge gibt, gibt es auch viele Kapitelle, oft kunstvoll gearbeitet. Ich glaube, dass man mehrere Tage durch Padua laufen kann, nur um sich den Kapitellen zu widmen. Ich hatte wirklich eine köstliche Zeit, nicht nur wegen des Pfirsichs.
Die Hitze des Tages schlauchte mich jedoch langsam, so dass ich erst in einem kleinen Park lunchte, dann in einem Café noch einen Espresso trank, dabei meinen Roman bearbeitete. Vorher machte ich eine kleine Tortur durch, draußen, an die 37 Grad, drinnen, klimatisierte 20 Grad. Mein Kreislauf meldete sich und teilte mir schwindliger Weise mit, dass er solche Sperenzchen nicht gewillt war mitzumachen. Ich blieb jedoch bei Bewusstsein, weil ich ihn ignorierte.

Wenn ich schreibe, schreibe ich. Dann ist mir alles egal, was um mich herum geschieht. So bemerkte ich nicht, dass die Kellner direkt neben mir bereits dazu übergegangen waren, Stühle laut zu verschieben, in der Hoffnung, mich von meinem Platz zu bewegen. Ein alter Kellnertrick, den mir meine Ausbilderin vor 20 Jahren im Mark Hotel in Berlin beigebracht hat. Es half nichts, eine der Kellnerinnen musste mich bitten, woanders Platz zu nehmen. Es war uns beiden peinlich, aber ich war sowieso fast fertig mit dem Teil, den ich mir vorgenommen hatte.
War das Eintreten in den klimatisierten Raum schon schwierig, war das noch kein Vergleich zu dem, was mich beim Gehen erwartete. Ein Schwall heiße Luft wehte mir entgegen, ich dachte, das wäre vielleicht eine Entlüftung. Nichts da, es war einfach nur ein Luftzug, der die Temperatur seiner Umgebung angenommen hatte. Mit viel Selbstdisziplin und Willen setzte ich meinen Weg fort. Nur durch Zufall entdeckte ich das alte Universitätsgebäude, von dem ich gelesen hatte. Wie es der Zufall wollte, fand in zehn Minuten eine Führung statt, kurz entschlossen kaufte ich ein Ticket, dann ging es auch schon los. Wir wurden in einen prächtigen Saal geführt, der über und über mit Wappen bedeckt ist. Leider verstand ich die Worte unserer Führerin nicht, es war wohl englisch, leider sehr leise und auch nicht unbedingt mit vielen tonalen Schwankungen gesprochen, was mich immer dazu reizt, in meine eigenen Gedanken zu verfallen. Zumindest das hat sich seit der Schulzeit nicht geändert. So erfuhr ich nie, was es mit den Wappen auf sich hatte. Ich hörte jedoch, dass Galilei hier unterrichtet hat und dass sich in der Nähe sein altes Arbeitszimmer befindet, mit einem Originalschreibtisch, an dem er gearbeitet hat, aber dass dieses Zimmer zurzeit aber nicht zugänglich ist. Warum sie uns erst den Mund wässrig macht, um uns dann zu erzählen, dass man es doch nicht sehen kann, gehört zu einem der vielen Mysterien der Menschheit. Was wir sehen durften, war der anatomische Saal aus dem Mittelalter, wo die ersten Menschen – wissenschaftlich – seziert worden sind, um mehr über die Anatomie zu lernen. Zumindest das unterschied sich also von der Folter und ich hoffe, dass es sich nur um Leichen gehandelt hat. Hier jedenfalls ist der menschliche Blutkreislauf entdeckt worden. Ich glaube, es war ein Engländer, der hier studierte. Der Name ist im Genuschel untergegangen, schade eigentlich.

Wir durften uns noch ein altehrwürdiges Prüfungszimmer ansehen, der Delinquent saß in der Mitte eines hufeisenförmig angelegten Tisches von enormer Größe. Ich konnte die Beklemmung spüren, die hier förmlich noch im Holz steckt.
Als Letztes bekamen wir noch eine Statue von der ersten Frau zu sehen, die hier den Abschluss geschafft hat. Die erste Frau der Welt, die somit einen Doktortitel trug. Eleonor Lucrezia und so weiter, das war 1637. Wenn man bedenkt, dass die Universität seit den Zwanzigern des 13. Jahrhunderts besteht, hat es nur schlappe vierhundert Jahre gedauert. Immerhin besser spät als nie. Aber die Worte unserer Führerin habe ich noch im Ohr: „That was the beginning of the end.“
Woraufhin ein englischer Rentner vergnügt entgegnete: „And the end is nigh, so let’s enjoy ourselves.“ Um die Komik zu verstehen, hätte man dabei sein müssen. Diesen alten, dicken Engländer, mit seinen leuchtenden Kinderaugen verschmitzt lachend, es war einfach ein Anblick zum Totlachen.
Und wo er recht hat, hat er recht. Sollen doch die Frauen das Ruder übernehmen. Solange sie mich in Ruhe lassen….
Die Heimfahrt wurde zu einer Hitzequal. Ich hatte vergessen, meine Beine mit Sonnenschutzcreme einzureiben, ein unverzeihlicher Fehler. Ich kühle immer noch. Die Strecke selbst war jedoch wundervoll, wir kamen an sicher mehr als einem Dutzend der typisch venezianischen Villen vorbei. Ich erhaschte immer nur einen winzigen Blick, aber immerhin. Es erinnerte mich an die vielen herrschaftlichen Häuser in England, die ich dank der Mitgliedschaft beim National Trust besichtigt habe. Eine Zeit also, die ich als die glücklichste in meinem Leben ansehe.
Genug geträumt, morgen fahre ich ab. Und ich werde morgen erklären müssen, warum ich nicht nach Trieste gefahren bin.
Der sechste Sinn, sage ich nur.