Metéora-Klöster

Es war eine frische Nacht. Vorgestern habe ich aus irgendeinem Grund ein Thermometer gekauft. Es zeigte heute Morgen um acht Uhr zehn Grad an, deutlich unter der Komforttemperatur. Es machte mir eigentlich wenig aus. Nur das Aufstehen zögere ich bei Kälte immer etwas hinaus, doch heute war das unerheblich, denn sonntags lasse ich mich nicht hetzen.

Ich hatte gestern die Schönheit der Gegend kaum wahrgenommen. Mich umgaben eigenartige Felsformationen. Glatt-zerklüftete Wände. Kegel, die emporschießen. Dazu der bunte Wald, leuchtend und einladend. Als ich aus dem Camper trat, hing der Geruch von brennendem Holz in der Luft. Die Sonne versteckte sich noch, hinter den Felsen schien sie aber schon, denn man sah, dass sie das andere Ende des Tals bereits flutete. Ich fröstelte nun doch erheblich, mein Wunsch nach einer Dusche verschwand angesichts der Tatsache, dass diese sich beinahe im Freien befinden. Trotzdem war ich heiter und gelassen, denn es würde ein schöner Herbsttag werden.

Gestern hatte ich noch im Rough Guide gelesen. Ohne es wirklich zu ahnen, befinde ich mich in einer einzigartigen Gegend, Unesco-Weltkulturerbe. Ich schaute mir die Felsen genauer an, da sah ich auch schon das erste Kloster. Hoch oben, auf der Spitze eines scheinbar unerreichbaren Felsens. Dafür ist die Gegend bekannt, jahrhundertealte Klosteranlagen, so unzugänglich, dass es beinahe ein Wunder ist, dass die Eremiten, die sie gegründet haben, diese Orte überhaupt erreicht und Gebäude dort oben errichtet haben.
Ich machte mich zeitig auf den Weg, selbst gegen neun spendeten die Felsen noch immer Schatten. Ich folgte der Hauptstraße des kleinen Ortes Kastraki, in dem ich Unterkunft gefunden hatte. Ich vermute, dass es in der Saison hier hoch hergeht, denn es gibt eine Reihe von Tavernen und Hotels, auch Souvenirläden. Aber jetzt war wenig los, ich traf kaum einen Menschen. Irgendwann sah ich einen Pfad aus dem Ort heraus, den nahm ich, denn er führte auf ein Kloster hoch über mir zu. Ich musste an den Sommer denken, den ich vor genau einer Woche zurückgelassen hatte. Und daran, wie töricht ich gewesen war. Dieser Herbsttag zeigte mir erst, wie schön diese Jahreszeit ist. Es roch überall nach Laub, die Farben der Blätter leuchteten, die Sonne wärmte mich jetzt, so dass ich bald schon meine Handschuhe und dem Schal ablegen musste, ohne die ich nicht hatte loslaufen wollen. Mein Weg führte mich sanft ansteigend vorbei an einigen interessanten Hügeln oder besser, Felsformationen. Hoch oben kam das Kloster immer besser in Sicht. Laut Karte handelte es sich um Varlaam. Dort sollte es einen steilen Pfad hinauf geben. Den fand ich auch.

Was nun folgte, gehört einmal wieder zum Thema „anstrengend“. Auf glitschigem Untergrund führte mich der Weg nach oben. Zu allem Überfluss verlor ich ihn auch noch, ohne das allerdings zu merken. Stattdessen lief ich ein Flussbett entlang, das ich immer noch für den richtigen Weg hielt. Es war noch rutschiger, die Felsen glatt, voller Moos und sehr steil. Erst als ich den Pfad wiederfand, wusste ich, dass ich eine Herausforderung gemeistert hatte. Trotz der Anstrengung genoss ich es, denn die Luft war klar und ich fühlte mich lebendig und frei. Natürlich schnaufte ich ziemlich, doch hielt ich nicht inne, stieg immer höher.

Dann hatte ich es geschafft. Statt am Kloster Varlaam herauszukommen, stand ich vor dem Eingang von Metamorphosis, die größte und höchste Anlage in der Gegend. Ich zögerte nicht, sondern ging hinein.
Drinnen war alles wie in einem guten Museum, beschriftet und hinter Glas. Ich lief an allem erst einmal vorbei, um auf die Plattform zu gelangen. Die Aussicht war atemberaubend. Das Tal lag mir zu Füßen, die Felsen, die Vegetation, andere Klöster im Hintergrund. Wundervoll. Einen besseren Abschluss für meine Reise im Osten hätte ich nicht finden können. Auch das Innere des Klosters ist sehenswert, wenn auch manchmal etwas makaber. Ich fotografierte heimlich den kleinen Raum, in dem die Knochen der verstorbenen Priester aufbewahrt werden. Die Totenschädel sind alle ordentlich aufgereiht. Keiner tanzt aus der Reihe. Noch gruseliger aber sind die Fresken in der Kirche. Ich habe noch niemals so bildliche Szenen gesehen, in denen Heilige ihr Martyrium erlitten. Köpfe rollten, Extremitäten lagen herum, Leute wurden gekreuzigt, mal auf dem Kopf, mal richtig herum, einige wurden verbrannt, andere gerädert. Eine Häutung war so bildlich dargestellt, dass mir ein wenig übel wurde. Es kann auch sein, dass diese Szene in einem anderen Kloster dargestellt war. Alles wirkte so real, viel zu plastisch für meinen Geschmack. Im starken Gegensatz zur dargestellten Gewalt steht die Atmosphäre in dem Kloster. Es herrscht ein kaum zu beschreibender Frieden, eine Heiterkeit, die beinahe jeden ergreift. Ich bin sicher, dass die meisten Besucher sich dieses Gefühls nicht bewusst wurden, aber ich spürte es, auch bei den anderen.

Was mich noch beeindruckte, war die alte Küche. Schwarz-gebrannte Wände waren angefüllt mit allerlei Kochutensilien aus sonst welchen Jahrhunderten. Direkt daneben ist der alte Speisesaal mit urigen Tischen, manche davon einige Jahrhunderte alt. Hier befinden sich auch Gemälde von griechischen Freiheitskämpfern, die meisten davon erlitten recht früh den Heldentod. Dabei wurde mir erst wieder klar, dass diese Nation noch sehr jung ist. Genauso wie die deutsche. Keine zweihundert Jahre ist sie alt, was anscheinend zu dem glühenden Nationalismus führt, der hier in Form von Heldengemälden sichtbar wird. Wir Deutschen waren sicher ähnlich, nur haben wir uns eben diese Form des Nationalismus selbst verdorben. Ist auch ganz gut so, denn es kommt mir so vor, als wenn hier ständig nur ausgeblendet wird. Geschichte wird dadurch verschleiert, nicht geschrieben. Man muss sich auch den Misserfolgen stellen. Das Gefühl habe ich hier nicht. Hatte ich aber in der Türkei ebenso wenig.

In dem Kloster sind auch eine ganze Reihe von Schriften ausgestellt, wundervolle Werke mit geschwungener Schrift und kunstvollen Bildern. Auch hier hielt ich mich lange auf, bestaunte die Werke von Mönchen, die oft ihr ganzes Leben der Kopie eines einzigen Buches gewidmet haben. Erstaunlich.
Danach machte ich mich auf zu dem Kloster Varlaam, das etwas unterhalb von Metamorphos liegt. Auch hier sind die Szenen in der Kirche gewaltig gewalttätig. Es ist jedoch erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt. Ob es beim Vollbringen von grausamen Straftaten ebenso ist? Abstumpfung und die dadurch notwendig gewordene Steigerung an Grausamkeit? Das würde zumindest die Verrohung von scheinbar normalen Menschen in Zeiten der Unruhe erklären. Heißt aber auch, dass keiner von uns davor sicher ist. Vielleicht haben wir alle diese Bestie in uns.

Hier sah ich auch die alte Seilwinde, die einzige Zugangsmöglichkeit aus früheren Zeiten. Steil geht es bergab, sicher 40 Meter in die Tiefe. Als ein früherer Abt einmal gefragt wurde, wann denn das Seil ausgetauscht würde, gab er trocken zur Antwort: „Wenn es reißt“. Hört sich plausibel an, war aber sicher nicht so gut für denjenigen, den es letztlich beim Hochziehen erwischte.
Um diesen wunderbaren Tag abzurunden, lief ich noch zum Kloster Roussanou, das offensichtlich von Frauen betrieben wird. Es ist kleiner, wie ich finde nicht ganz so spektakulär, wahrscheinlich weil ich mich so sehr an die grausamen Fresken gewöhnt hatte, die ich auch hier vorfand. Doch vom Ausblick bekam ich nicht genug, ich genoss diesen Herbsttag in vollen Zügen.

Und wieder dachte ich an die Zeit vor einer Woche. Mir fiel wieder einmal Hesses „Stufen“ ein. Ich spürte den Zauber der Veränderung, wie er mich ergriff und mich einhüllte. Es ist ein sagenhaftes Gefühl von Glück. Daher weiß ich jetzt, dass es richtig war, die Türkei zu verlassen. Wahrscheinlich hatte ich mich schon viel zu lange dort aufgehalten. Aber den Absprung hab ich letztlich doch geschafft. Erst die Veränderung macht uns lebendig. Nichts ist stärker, als sich immer wieder Neuem zu stellen, daran zu wachsen. Ich wünschte, dass mehr Menschen das ebenso sehen würden und nicht so viel Angst vor dem Unbekannten hätten. Das macht sie oft so bitter und unbeweglich. Aber ich kann das am Ende nicht für sie entscheiden. Vielleicht, wenn einige das hier lesen, verstehen sie vielleicht. Ich würde es ihnen wünschen.

Gegen Nachmittag kehrte ich schließlich zurück, es war ein wunderbarer Sonntagsspaziergang gewesen, den ich sobald nicht vergessen werde. Es war sogar warm genug für eine Dusche.
Morgen werde ich nach Italien übersetzen, habe aber den ganzen Tag Zeit, um nach Igoumenitsa zu kommen, denn die Fähre geht erst um Mitternacht. Ich werde sie zu nutzen wissen. Langsam bohrt auch das schlechte Gewissen, denn der Roman scheint direkt draufzuliegen. Und der wiegt schwer.