Petrovac

Ich lese gerade einen Roman von Frank McCourt. Genau, „Die Asche meiner Mutter“. Aber es ist nicht dieser Roman, sondern der, den er danach geschrieben hat. „Tag und Nacht und auch im Sommer“. Meine Schwägerin hat ihn mir gegeben, die Lehrerin geworden ist, genau wie McCourt. Seit ich den Roman lese, vielleicht seit zwei Tagen, gehen mir eine Menge Erinnerungen aus meine Schulzeit durch den Kopf. Es sind alles keine glorreichen Erinnerungen, denn den Spaß am Lernen und am Wissen habe ich erst mit Mitte zwanzig entdeckt. Kaum zu glauben, aber es ist so. Aber auch aus einem anderen Grund ist dieser Autor, dessen Humor und Ehrlichkeit mich immer wieder entzücken, wichtig für mich. Denn erst mit über 60 hat er seinen ersten Roman geschrieben. Und doch hat er jetzt Erfolg. Ich bin 40, habe zwar schon mehrere Romane geschrieben, die bislang kaum jemand gelesen hat, weil sie noch nicht gedruckt worden sind. Ich muss an Leute wie Frank McCourt glauben, weil ich sonst nicht mehr an mich glauben könnte. Vieles habe ich bereits herausgefunden. Ich werde niemals wieder für andere Leute schreiben, denn das wird nichts, es sei denn, diese Leute geben ihr eigenes Thema vollständig an mich ab, was sie niemals tun würden. Also geht es nicht. Ich habe zwar meinem Freund versprochen, über seine Tätigkeit in Afrika zu schreiben, weiß aber, dass ich mein Versprechen nicht halten darf, möchte ich ihn und mich dabei nicht in den Abgrund ziehen.
Auch werde ich nach meiner Reise anders mit der Schriftstellerei umgehen. Ernsthafter, disziplinierter. Nicht dass es nicht jetzt schon so ist, doch das Reisen steht oft noch im Vordergrund, so dass die Schreibsessions, von denen ich zurzeit zwei am Tag habe, oft eher eingezwängt sind. Als ich in Manchester das erste Mal geschrieben habe, ein halbes Jahr lang, schrieb ich am Tag vier Mal, jeweils ungefähr tausend Worte. Im Moment ist es also eher die Hälfte. Ob es der Geschichte jeweils gut tut, werde ich sehen, aber ich nehme es mir vor. Ich weiß, dass ich zu harter Arbeit in der Lage bin, muss ich jetzt auch, denn ich habe die Hälfte meines Lebens aufzuholen, die ich mit anderen Dingen als dem Schreiben verbracht habe. Auch das war keine Verschwendung, denn aus den Erfahrungen schöpfe ich heute noch. Trotzdem habe ich im Moment noch das Gefühl, noch lange nicht auf dem Höhepunkt meiner Fähigkeiten zu sein und das möchte ich noch erreichen. Der Erfolg kommt dann sicher von ganz allein, ich werde ihm auch ein wenig auf die Sprünge helfen. Ideen dazu habe ich bereits, mal sehen, ob ich diesmal auch den Mut haben werde, sie wirklich umzusetzen. Ich fühle jedoch in mir eine Kraft heranwachsen, die ich aus dem Reisen gewinne. Es ist die Kraft, die man schöpft, wenn man nach und nach seine Ängste besiegt, sich von ihnen verabschiedet, weil sie einem das Notwendige gezeigt haben. Ich weiß, dass ich noch immer Ängste habe, soziale vor allem, denn mein Lebensstil ist nicht gerade das, was man als sicheren Hafen betrachten würde. Mein Gejammer über Preise und Geld ist sicher schon manchem zu viel, aber es ist letztlich nur Ausdruck einer Angst. Von der ich ehrlich gesagt nicht erwarten kann, sie los zu werden. Aber noch ist es nicht so weit, noch ist sie da und darf nicht ignoriert werden.
Heute war eine Art Ruhetag, zwangsläufig, denn hier ist nicht viel los. Das stimmt nicht, es ist eine Menge los, die Strände sind voll mit Menschen, die Saison ist noch immer auf dem Höhepunkt und ihr geht auch noch nicht die Puste aus. Obwohl die Holländer mittlerweile fehlen, wahrscheinlich sind dort die Ferien vorbei. Trotzdem, ich kann mich mit einem reinen Stranddasein nicht anfreunden. Ich kann mich einfach nicht in die Sonne setzen, nichts tun, schlafen. Vielleicht einmal eine Stunde, aber nicht mehr, dann werde ich nervös.

Es war schon immer so. Mit 28 besuchte ich in Rennes an die Supdeco, die Wirtschaftsschule, deren englischer Touch mein Wirtschaftsstudium gerettet hat, denn plötzlich arbeiteten wir an Beispielen aus der echten Wirtschaft, anstatt nur über de Theorie zu lesen. An dieser Schule war ich – mit anderen ausländischen Studenten gemeinsam – einer der ältesten, einige zählten noch nicht einmal 20 Lenze. Auch wenn das interessante Aspekte außerhalb des Studienalltags aufwarf, vor allem beim weiblichen Geschlecht, das Love 30 ganz sicher Love 20 vorzieht, gab es auch eine Menge Probleme. Ich erinnere mich im Besonderen an das sogenannte Weekend Integration, eine Wochenendfahrt, die von Studenten organisiert wurde für alle Studenten. Lehrkörper gab es nicht, überhaupt niemanden, der 300 Anfang Zwanzigjährigen in irgendeiner Weise Grenzen aufgezeigt hätte. Das Wochenende verbrachten wir auch an einem Strand, vielleicht lässt sich meine Abneigung mit den damaligen Ereignissen erklären. Bevor es losging, luden wir den Bus voll, ich sah nur kistenweise Alkohol. Nicht etwa Wein oder Bier, nein, Tequilla, Rum und Whiskey, alles von der billigsten Sorte.
Die Sauferei ging damals los, als wir angekommen waren. Ich glaube, dass einige der besonders jungen sicher gar keine Erinnerung mehr an das Wochenende haben. Das Essen nahmen wir in einer Art Kantine ein, ich weiß nicht mehr, ob es serviert wurde oder ob wir es abholten. Jedenfalls landete das wenigste davon in unseren Mägen. Das meiste wurde als Wurfgeschoss verwendet.
Ich ging irgendwann, doch selbst am Strand fand ich keine Ruhe, denn immer waren sicher ein Dutzend Leute um mich herum, so betrunken, dass sie mich nicht in Ruhe ließen.
Ich tat das einzig Richtige, ich ging noch weiter weg. Ich erinnere mich an einen herrlichen Spaziergang, es müssen Felsen gewesen sein, dann eröffnete sich mein Blick auf einen völlig einsamen Strand. Keiner der Trunkenbolde folgte mir, wie auch. Hier entdeckte ich, dass ich nicht für die Massen geschaffen bin. Nicht jetzt, nicht damals. Ich blieb an diesem Strand, mehrere Stunden, bereute, dass ich nicht ein Buch mitgenommen hatte, aber das brauchte ich damals nicht unbedingt.

Letztlich ist es hier genauso. Es sind viel zu viele Leute, eingeölte Sardinen in der Büchse, ich fühle mich einfach nicht wohl. Anders als auf Boulevards, auf denen Leute sich präsentieren, geschieht hier auch einfach nichts. Die meisten liegen nur da, stundenlang, und auch wenn der Anblick von schönen Körpern sicher Grund genug ist, hier ein paar Minuten zu verweilen, so reicht es doch dann.
Trotzdem machte ich mich heute auf den Weg nach Petrovac. Mehrere Strände kam ich entlang, alle zum Bersten voll. Petrovac selbst war eine einzige Strandpromenade. Sicher sehr nett außerhalb der Saison, für mich aber kaum zum Aushalten. Trotzdem hat es sich gelohnt, denn ich habe ein Sandwich gegessen, dessen Geschmack ich jetzt noch im Mund habe. Frisch gebackenes Fladenbrot, drin Käse und der berühmte Schinken, der hier hergestellt wird. Einige einfache Salatblätter, keine Mayonnaise oder sonst welcher Unfug. Alles nochmals im Ofen gebacken, so dass der Käse zerlaufen war. Es war eines der besten Sandwiches, das ich je gegessen habe. Ich musste einige Minuten warten, denn es wurde frisch gemacht. Allein schon deshalb hat sich mein Marsch gelohnt.
Morgen stehe ich wieder vor der Wahl: Berge und Seen oder wieder Strand. Es wird nicht leicht. Aber will ich das denn?