Neuschwanstein und Tegelberg

Ich wusste gar nicht mehr, dass der Weg bis nach Neuschwanstein vom Camperstop so weit ist. Viele Kilometer lang führt er meist an der Straße entlang zur wichtigsten Attraktion Deutschlands, die mich an diesem Tag allerdings nicht weiter interessierte. Es ist sicher die schiere Masse an Touristen, die einem den nicht ganz abwegigen Eindruck von Disneyland geben. Ich jedenfalls lief, als ich das Schloss endlich erreicht hatte, schnurstracks daran vorbei. Wanderstöcke und Rucksack im Anschlag sozusagen. Auch die Mariannenbrücke war vollgepackt mit Menschen aus aller Herren Länder. Doch schon wenige Meter davon entfernt verlief sich alles, kaum noch jemand begab sich auf den folgenden Wanderweg in Richtung Tegler Berg. Kein Wunder, denn der hat es wirklich in sich. Auch das wusste ich nicht mehr. Vor einigen Tagen war ich zum Muttekopfhaus aufgestiegen. Höhentechnisch eigentlich eine anspruchsvollere Geschichte. Aber manchmal sind es eben nicht nur die Zahlen, die zählen. Denn der Anstieg hier ist steil und rasant, nicht so sanft wie bei Imst. Ich schlängelte mich auf dem schmalen Pfad hoch, der nicht ein einziges Mal vom Ziel, nämlich mich nach oben zu bringen, abließ. Ich kam schnell ins Schwitzen, auch der Atem wurde flacher, so dass ich an meiner Fitness zweifelte. Aber ich merke trotzdem den Effekt von drei Wochen Wandern, denn kurze Pausen helfen mir, mich fast vollkommen zu regenerieren.
Der Tegelberg selbst ist dann eine ziemlich unspektakuläre Geschichte, denn irgendwann, außer Atmen und nass geschwitzt, steht man vor einem Schild, das besagt, dass man den Gipfel erreicht hat. Damit war ich aber noch nicht da, wo ich sein wollte, denn die Alm ist noch einmal mindestens eine Stunde entfernt. Hier erst hatte ich die Ausblicke, für die ich wandere. Also nur um es richtig zu stellen, ich wandere natürlich nicht nur für Ausblicke. Ich genieße es zu laufen. Ich liebe den Geruch von Holz, manchmal modrig, manchmal kernig, vor allem, wenn es frisch geschnitten ist. Welch wunderbares Material. Selbst wenn es schon uralt ist, scheint es dennoch zu leben, wie ich jetzt, nachdem ich so einiges mit Holz angestellt habe, bestätigen kann.
Der letzte Anstieg, den ich auch nicht mehr in Erinnerung hatte, war mal wieder vom Feinsten. Steil und unnachgiebig, so dass alle, die sich das antaten, nur langsam und ächzend vorankamen. Die Strapaze steht jedem ins Gesicht geschrieben, was ich freilich erst merkte, als ich wieder nach unten lief. Aber erst einmal kam ich erschöpft, aber glücklich, oben an. Es hat immer etwas Besonderes, wenn man ein Ziel erreicht. An diesem Tag genoss ich es etwas mehr, vielleicht bringt mir das Wandern so etwas bei. Den Erfolg auch mal zu genießen. Denn ich blieb eine Weile oben, gönnte mir eine große Cola auf der Hütte, die frisch und anregend schmeckte. Normalerweise trinke ich so einen Mist nicht, aber es sind diese seltenen Momente, da ich es mir gönne. Danach beobachtete ich Segelflieger und Fallschirmgleiter, die sich todesmutig auf einer steilen Rampe in die Tiefe stürzen. Nur um wenige Sekunden später nach einem Senkflug wieder aufzutauchen. Ich könnte das niemals machen, aber es sieht schon fantastisch aus, wenn sie durch die Luft gleiten.

Nach einer Dreiviertelstunde entschied ich mich für den Abstieg in Richtung Bahnstation, um nicht den gleichen Weg wieder zurückzugehen. Stunden hatte ich für den Aufstieg auf ca. 1700 Metern gebraucht, hatte den Säuling gesehen, der noch immer der höchste Gipfel ist, der von mir allein bezwungen worden ist – und das mit Sandalen, darf man niemandem erzählen. Und jetzt lief ich den Berg hinunter. Ach was laufen. Den meisten Teil der Strecke rannte ich. Es ging gar nicht anders, weil ich die Fahrt, mit der ich unterwegs war, kaum bremsen konnte. Die anderen Wanderer wichen lange aus, bevor ich sie erreicht hatte, was auch gut war. Letztlich war ich eine Stunde später wieder unten, die Hinweisschilder hatten dafür zwei einhalb Stunden vorhergesagt.
Jetzt merkte ich aber doch die Anstrengung. Ich schleppte mich an der Bahnstation vorbei und lief auf ebenen Wegen in Richtung Hohenschwangau. Als hätten sie auf mich gewartet, stand schon ein Bus bereit. Eine kleine italienische Familie drängelte sich zwar vor, denn die Schlange war nicht ohne. Doch nachdem der erste Bus proppenvoll war und abfuhr, kam ein zweiter, so dass wir problemlos Sitzplätze bekamen. Ich hörte einen Amerikaner hinter mir beeindruckt sagen: „That’s German public transport.“ Es ging natürlich darum, dass alle Zurückgebliebenen Angst hatten, jetzt zwei Stunden auf den nächsten Bus warten zu müssen, so wie das in England, den USA, Italien oder überall sonst der Fall gewesen wäre. Ich weiß es selbst leider selten zu schätzen. Aber trotz des Meckerns der Deutschen, die nicht wissen, was sie tun: Wir haben ein hervorragendes System aus öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn man sich jetzt noch dazu entschließen könnte, dass der Individualverkehr den Öffentlichen unterstützen muss, d.h. also die Verteilung von oben nach unten, wäre alles in Butter. So bleibt es leider ein teueres Vergnügen, aber wenigstens ein zuverlässiges. In England zum Beispiel ist es nur teuer. Somit sind wir besser dran.
In Füssen schleppte ich mich dann wirklich zum Platz, sah den Tegelberg von Weitem und freute mich wegen meiner beachtlichen Wanderleistung. Denn man kann beinahe sehen, wie Aufstieg und Abstieg funktioniert haben, welche Wege ich gegangen bin.
Am heutigen Sonntag war ich natürlich völlig fertig. Und ich stand vor der alten Frage, wohin ich fahren sollte. Ich verschob die Angelegenheit und blieb einfach noch auf dem Platz. Hier habe ich jetzt Zeit, um in mich zu gehen.
Ich stelle übrigens fest, dass drei Wochen Wandern mir jetzt reichen. Eigentlich reichen mir auch drei Wochen Urlaub, eine recht neue Erfahrung. Ich surfte das Internet von oben bis unten, zog den Schwarzwald in Betracht, dann Tschechien oder den Bayerischen Wald. Doch nichts begeisterte mich. Ich glaube, ich bin am Ende angelangt. Für den Moment zumindest. Der Herbst ist herrlich, aber das ist er in Berlin auch. Herrlicher übrigens als die meisten Sommertage. Und wärmer. Doch gestern bemerkte ich das erste Mal, dass das Grün nicht mehr ganz so frisch ist, dass sich schon mehr Herbstfarben einschleichen. Es sind die Vorboten und ich bin sicher, wenn ich jetzt nach Hause fahre, werde ich es spätestens in einer Woche bereuen. Trotzdem, ich muss ja nicht den fünften Gang einlegen, es reicht ja auch der zweite. So kann ich noch die eine oder andere Zwischenstation einlegen. Das Buch habe ich auch noch nicht fertig. Zu viel physische Beanspruchung tut der Sache dann doch einen ganz schönen Abbruch, auch wenn ich das bislang geleugnet habe.
Morgen geht es in Richtung Altmühltal, dann vielleicht nach Nürnberg. Von dort ist es dann nicht mehr weit. Also werden wir sehen…