Sciacca

Ich kann es nicht anders beschreiben, aber im Augenblick geht bei mir eine winzige Depression um. Morgen ist der letzte Tag des Jahres, vielleicht eines meiner besten auf dieser Welt und ich denke, dass eine Spur Abschied langsam in meine Gedanken übergeht. Ich habe versucht, in mir zu forschen und werde wahrscheinlich nicht nach Tunesien übersetzen, weil mir einfach die Energie dazu fehlt. Für so eine Reise muss man hungrig sein, das bin ich zurzeit nicht. Das bedeutet aber auch, dass ich, langsam oder schnell, nach Sizilien den Weg gen Norden wählen werde. Das ist über kurz oder lang der Weg nach Hause, denn die winterlichen Temperaturen werden ein Leben im Camper nicht länger zulassen. Ich beginne, das langsam zu verstehen.

Heute überlegte ich lange, bevor ich mich entschied, doch noch einen Tag länger zu bleiben. Ich bin beinahe am westlichsten Zipfel Siziliens, den ich erreichen werde, so dass Eile nicht unbedingt notwendig ist. Also konnte ich mir Zeit lassen und den Ort Sciacca erkunden, der von der Antike bis heute für seine Thermalquellen bekannt ist. Davon bekam ich aber nicht viel zu sehen, nur eine Art Kurzentrum, das ich erst als solcher erkannte, als es bereits geschlossen hatte, fand ich hier. Stattdessen erkundete ich die Altstadt. Ich war froh, es endlich mit einem Ort zu tun zu haben, der keine grandiosen Attraktionen aufbot, sondern einfach nur sich selbst. Nach einigem Suchen fand ich die Touristeninformation. Zwei ältere Herren verstanden mich erst nicht, überredeten mich dazu, französisch zu sprechen. Es funktionierte recht gut, immer in Anbetracht der Zeitspanne, in der ich nicht mehr französisch gesprochen habe. Sie gaben mir einen Stadtplan, der mich von Anfang an überforderte. Schon allein seine Größe kam mir lächerlich vor. Ein riesiges A2-Blatt trug ich vor mir her, kniffte es einige Male, konnte dann aber nicht die Übersicht behalten. Ich glaube, selten war ich so eindeutig als Tourist zu identifizieren wie hier.

Noch bevor ich mich in die engen Gassen der Altstadt hineinquetschte, sah ich eine beeindruckende Kirchenfassade. Es handelte sich dabei um ein barockes Gebäude, das allerdings auf einen normannischen Bau zurückging. Dieser war noch außen zu erkennen, die weißen, erodierten Quader, eine Rose und zwei Fenster passten gar nicht in die sonst barocke Fassade, die halb abgebrochen schien. Vielleicht hat man sie entfernt, um den normannischen Teil wieder sichtbar zu machen. Innen ist die Kirche wieder barock, die Säulen allerdings sind römisch, die Kapitelle wahrscheinlich aus Gips. Jeder macht es so, wie er es sich leisten kann. Gegenüber fand ich einen Teil eines alten Bollwerks, wuchtige Mauern, die allen Stürmen getrotzt zu haben schienen. Dann machte ich mich auf den Weg in das Gewirr der Altstadt. Vorbei am geschlossenen Dom suchte ich den Weg anhand der riesigen Straßenkarte, kam mir wirklich lächerlich vor. Ich kann nicht sagen, dass Sciacca wunderschön ist. Eher ist es praktisch. Je höher ich kam, desto einfacher wurden die Häuser, von denen viele alles andere als historisch sind. Sicher haben Erdbeben hier dafür gesorgt, dass regelmäßig eine Art von Modernisierung stattgefunden hat. Um mich nicht zu verlaufen, was sehr schnell geschehen wäre, konsultierte ich den immer nützlicher werdenden Plan. So fand ich auch das Kastell, eine leere Ruine, von der nur noch die Außengemäuer vorhanden zu sein scheinen. Es war natürlich geschlossen, ich bezweifle aber, dass ich dafür Eintritt gezahlt hätte.

Ich wollte die alte Stadtmauer finden. Tat ich auch, auch wenn mir der Weg ein wenig einsam und eigenartig vorkam. Laut Plan hätte es eine normale Straße sein müssen, aber nach einigen Hundert Metern endete der Asphalt und ein Trampelpfad begann. Ich weiß nicht, was mich ritt, weiterzugehen. Einige Meter später jedenfalls wurde mir bewusst, wie einsam es war. Und ich machte mir langsam bewusst, dass ich auf Sizilien war, einer Insel, auf der nur eines organisiert ist.
Plötzlich war auch die Sonne weg, die den ganzen Tag geschienen hatte. Als wollte sie mir ein Zeichen geben. Es war wirklich unheimlich und ich schaute mich bereits nach möglichen Fluchtwegen um. Wäre es hart auf hart gekommen, hätte ich versucht, die alte Stadtmauer zu erklimmen. Letztlich geschah natürlich gar nichts. Ich ging den Weg zurück und fand mich bald auf einer breiteren Straße wieder. Hier waren wieder einige Menschen, wenn auch wenige. Trotzdem, ich werde sicher in Zukunft etwas achtsamer sein. Man muss sein Glück in fremden sizilianischen Städten nicht herausfordern.

Die Altstadt verliert hier oben weiter an Charme. Eigentlich befinden sich hier oben nur noch graue Häuser, auch wenn einige von ihnen sicher sehr alt sind, was man manchmal an den Fenstersimsen oder Türen erkennen kann. Ich fand ab und an einige wundervolle Details wie Türklopfer oder völlig verzogene, jahrhundertealte Türen. Auch einen kleinen Garten erspähte ich, von wo aus ich einen schönen Blick aufs Meer hatte.
Ich drehte noch eine Runde, dann war ich wieder unten, schneller als ich gedacht hatte. Die Sonne kam langsam wieder hinter den Wolken hervor und ich hatte das Glück, eine einsame Bank zu finden, direkt auf einem riesigen Platz, mit Blick auf den Hafen und das Meer. Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich mich in die pralle Sonne setze. Im Sommer ist so etwas tabu, aber jetzt, im Winter tut es gut, die belebenden Strahlen auf der kalten Haut zu spüren. Ich hielt es sogar eine halbe Stunde aus, sitzen zu bleiben. Das ist selten. Dann aber bezog sich der Himmel wieder, einige Tropfen kündeten Unheil an. Beinahe wie gestern. Doch wie am Tag zuvor blieb es bei der Warnung, als ich wieder auf dem Campingplatz ankam, strahlte die Sonne wieder. Sehr eigenartig.

Morgen ist Sylvester und wie Weihnachten werde ich auch den Rutsch ins neue Jahr allein verbringen. Es wird mir sicher schwerer fallen als Weihnachten. Ich mag dieses Fest schlichtweg mehr. Und am Ende habe ich es mir so ausgesucht. Ich werde mit mir anstoßen. Vielleicht sogar mit einem Schlückchen Sekt, das ich erst kaufen muss. In jedem Fall ist Morgen ein Reisetag. So vertreibt man am besten die Geister des Zweifels. Aktion und Freude, das hilft meistens. Grübeln hat noch niemandem gut getan.