Thessaloniki

Gestern Abend war ich kurz am Strand, hatte dort eine Begegnung der besonderen Art. Eigentlich mag ich Hunde recht gerne, einmal angesehen von ihrer treudoofen Art. Aber die Viecher, die hier in Massen herumlungern, kann ich nicht ausstehen. Zumal mir zwei der Biester zusetzten, dass es nicht mehr lustig war. Einer begann damit, meine Tasche kauen zu wollen, auch die Kamera in meiner Hand erweckte sein Interesse. Das andere Viech war etwas schüchterner, wurde aber durch die Aktion des ersten ermuntert, ebenfalls zuzuschnappen. Anschreien half nicht, zum Schlagen hatte ich nichts, also versuchte ich es mit Wegrennen. Aussichtslos, denn Hunde sind einfach schneller. Ab einem Punkt hatte der größere der beiden sogar meine Hand im Maul, zum Glück schaffte ich es noch, diese zurückzuziehen. Erst als ich die Bretter einer Bar erreicht hatte, trollten sie sich. Es war eine eigenartige Erfahrung, denn meine Kehle hatte sich zusammengezogen, ich rang nach Luft. Die letzten Meter zum Campingplatz legte ich rasch zurück, bevor die Hunde es merkten. Noch einmal werde ich sicher keinen Strandspaziergang machen.

Ich habe ebenfalls eine Entscheidung getroffen. Zwar brennt mir die Arbeit unter den Nägeln, aber ich sollte doch auch das Reisen nicht vergessen. Ich bin hier, jetzt und heute, und wenn ich mir die Gegend nicht anschaue, tue ich es vielleicht niemals wieder. Denn dass ich nochmals in meinem Leben so intensiv reisen werde, bezweifle ich. Auch bin ich fast sicher, dass ich trotz vieler Aktivitäten am Tag beinahe ebenso viel lektorieren werde wie ohne.
Jedenfalls wachte ich erfrischt und zeitig auf, verabschiedete noch ein nettes österreichisches Rentnerehepaar, das in vollen Zügen die Pension genießt und monatelang im Jahr unterwegs ist. Dann fuhr ich die wenigen Kilometer bis Epanomi, sah dort die Bushaltestelle und parkte. Ich befand mich mehr als 20 Kilometer entfernt von Thessaloniki, wollte ausprobieren, wie ich am besten in die Stadt käme. Im Bus musste ich erst einmal ein Ticket lösen. 70 Cent, das ging doch. Also warf ich ein Zweieurostück in den Automaten, der das Ticket druckte und mir dann süffisant mitteilte, dass kein Wechselgeld zur Verfügung stand. Einige Griechen bemerkten meine Misere, einige schauten mitleidig, die meisten jedoch waren zumindest belustigt. Wieder ein blöder Tourist, der zu viel zahlt.
In jedem Fall verlief die Fahrt sehr flüssig. Binnen kurzer Zeit erreichten wir den alten Bekannten: Ikea, hier in Thessaloniki ein Verkehrsknoten, an dem umgestiegen wird. Der Bus ins Zentrum wartete bereits, besser geht es nicht. Da die Stadt wie auf dem Reißbrett entworfen ist, fuhren wir im Grunde immer nur eine Straße entlang, immer geradeaus. Trotz des modernen Flairs gefiel sie mir, sie ist eben chic und zeitgemäß. Dass hier aber noch mehr dahinter steckt, ahnte ich bereits.

Als ich den weißen Turm sah, stieg ich aus. Er soll laut Rough Guide ’89 in den Nachrichten vorkommen, ist also der Big Ben Griechenlands. Es ist eigentlich ein alter byzantinischer Wehrturm, wuchtig und etwas einsam, aber in jedem Fall prägnant. Wie schon erwähnt, gefiel mir die Atmosphäre, trotz der Großstadt herrschte Heiterkeit und Gelassenheit. Easy Going und Laissez-Faire, so würde ich es umschreiben. Was mir immer wieder auffällt, ist die Masse an jungen Leuten, die selbst vormittags in Cafés sitzen oder einkaufen gehen. Auch hier, doch das macht es natürlich so angenehm. Es ist immer etwas los.
Es war wieder sonnig, die Temperaturen in den mittleren Zwanzigern, also ein wirklich schöner Spätsommertag. Somit stand für mich fest, dass ich heute die Stadt selbst erkunden würde, Museen müssten bis morgen warten. Als Erstes lief ich von der Hafenpromenade, die sich hier kilometerweit erstreckt, zur Hagia Sofia, einer Kirche aus dem 8. Jahrhundert im Stil der großen Schwester in Istanbul. Dass es ein antikes Werk ist, sieht man bereits daran, dass es mehrere Meter unter dem heutigen Straßenniveau liegt. Überall draußen liegen noch antike Säulen herum, die wiederverwendet wurden. Es ist ein ehrwürdiges Gebäude, ein perfektes griechisches Kreuz. Riesige Kronleuchter mit goldenen Greifen geschmückt tauchen die Umgebung in ein schummriges Licht. Am schönsten aber sind die Mosaike. Ich fühlte mich an Ravenna erinnert, deren Mosaik noch älter sind. Hier sind sie allerdings genau so prächtig. Besonders erwähnt wird in den Führern das Mosaik, das das Gewölbe schmückt. Jesus umringt von Heiligen. Ich jedoch fand ein anderes wesentlich ausdrucksstärker. Über dem Altar, in der Wölbung des Chores, ist eine einsame Jungfrau Maria, die Jesus hält. Es ist ihr Gesichtsausdruck, der mich am meisten faszinierte. Er ist unglaublich traurig, die Lider hängen halb herunter. Das starre Gesicht weiß alles, kennt die Leiden, die auf ihren Sohn und somit auf sie zukommen. Denn vor allem ist es doch die Tatsache, dass die Mutter das grausamste aller Schicksale vor sich hat: Sie muss zusehen, wie ihr Kind vor ihr stirbt. Die unnatürlichste Sache der Welt also, ein Riss mitten durchs Herz. Etwas, dass meine Oma hat durchmachen müssen und dass ich deshalb zumindest ansatzweise verstehen kann.

Danach war Römerzeit. Ich sah einen alten Triumphbogen, an dem noch einige Reliefs zu sehen sind, eigentlich in recht gutem Zustand und zahlreich, wenn man bedenkt, dass vom Monument kaum noch etwas übrig ist. Die Rotunda einige Meter weiter erinnerte mich an das Pantheon in Rom, auch wenn es proportional bei Weitem nicht so gereift und gelungen ist. Daneben steht ein uraltes Minarett, denn nachdem es vom Tempel bzw. Grabstelle zur Kirche geweiht wurde, haben die Türken es nach der Einnahme so wie immer zu einer Moschee geweiht. In den Wölbungen des Gebäudes sind ebenfalls prächtige Mosaike, vor allem von Tieren. Außen liegen die Ruinen eines ausgegrabenen antiken Komplexes und, wie ich meine, Reste eines islamischen Friedhofs.
Nun war es nicht mehr weit zum alten türkischen Viertel. Laut Rough Guide soll dort eine spezielle Atmosphäre herrschen. Die konnte ich nicht nachvollziehen, auch wenn die Gegend recht verwinkelt ist, der historische Charme verfehlte seine Wirkung auf mich. Erst als ich weit oben die Stadtmauern erreichte, wurde es besser. Dort schaute ich mir von außen das Kloster Vlathadon an. Ein uralter, krummer Bau mit sehr viel Atmosphäre. Am besten aber war die Panoramaaussicht, ich war verwundert, wie weit das Meer von hier weg schien.

Ich lief noch weiter, höher, und gelangte zur alten Akropolis. Der Rough Guide teilte mir mit, dass es jetzt ein Gefängnis wäre. War es auch, bis 1989. Also konnte ich die alte Festung aus byzantinischer Zeit besichtigen. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, denn noch niemals in meinem Leben habe ich ein Gebäude gesehen, dass so viele antike Bruchstücke enthält. Säulen, Brunnen, Ecksteine, Bruchstücke, alles fand ich wieder, sogar ein korinthisches Kapitell ragte einige Zentimeter heraus, auch ein ionisches. Ein Querschnitt durch Jahrhunderte Baugeschichte. Das Gefängnis selbst geriet dabei in den Hintergrund, war auch nicht so wichtig. Ich fand das wunderliche Mauerwerk viel interessanter.
Der Stadtmauer folgte ich danach, von der noch viele Teile übrig sind. Das Haus von Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, fand ich nicht, auch wenn die Polizei- und Militärpräsenz groß war. Besondere Mühe gab ich mir nicht, denn ich finde diese Art von Kult überflüssig. Das Kloster Ayios Nikolaos fand ich eher zufällig, die Original-Fresken sind prächtig, auch wenn ich die Bedeutung nur weniger Szenen wiedererkannte.
Ich muss an dieser Stelle etwas zu dem Buch sagen, dass ich gestern beendet habe: Turbane in Venedig. Auch wenn mich das Ende noch immer beunruhigt und irritiert, hat es doch eines geschafft: Mein Interesse an kirchlicher Kunst wieder zu erwecken. Der Autor hat es fertiggebracht, mich für diese Art der Malerei wieder zu sensibilisieren. Auch wenn es noch sehr viel Zeit und Beschäftigung mit dem Thema bedarf, sah ich mir die Fresken wesentlich genauer an als sonst. Gesichtsausdrücke, Gefühle, aber auch, wer hinschaut und wer nicht. Das alles habe ich vorher kaum beachtet, es spiegelt sicher die Einstellung des Künstlers wider. Ich denke, dass ich jetzt eine Entdeckungsreise in dieser Richtung vor mir habe, nach vielen Jahren Abstinenz.
Seit Athen war es der erste Reisetag. Zwar habe ich meine Roman heute noch nicht einmal angesehen, bin aber sicher, es nachher zu tun. Was macht es schon, ob er eine Woche später fertig wird? Ob das meine Biografen verwirrt? Ein lustiger Gedanke. Aber ohne Humor geht es kaum. Oder?