Bordighera

Gestern sind wir noch im Dorf Le Bar du Loup ausgegangen, weil wir wie bestellt vergessen hatten, etwas für das Abendessen zu kaufen. Zwar war das Essen nicht überragend, dafür aber die Aussicht ins Tal. Es war selbst abends noch sehr heiß, erst ein riesiges Glas mit Eiswürfeln verhinderte den Hitzekollaps von Nina, die vor mir zu zerschmelzen drohte, was sicher nicht an meiner charmanten Art lag. Wir genossen die letzten gemeinsamen Stunden, die wir hatten, sahen vielleicht das erste Mal in diesem Urlaub bewusst den Tag zu Ende gehen. Selbst um 22 Uhr war es noch sehr hell, doch die Dämmerung hatte eingesetzt, das Weiß der Berge schimmerte hervor, überall in den Häusern tief unter uns gingen die Lichter an. Dazu kam eine schummrige Diesigkeit, die das Bild vor uns unscharf machten, es verschwamm vor unseren Augen. Es war ein herrlicher Ausklang eines Urlaubs, in dem wir viel erlebt und den wir von vorne bis hinten genossen haben. Ungeachtet der Mückenstiche und der Migräne machten wir das Beste aus einer in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Situation, denn welches Paar trennt sich schon auf diese Weise für so eine lange Zeit. Ich habe die große Hoffnung, dass Nina jetzt besser versteht, warum ich diese Reise allein machen muss, vielleicht hat sie mir ein kleines Stück verziehen.

Heute war einer der merkwürdigsten und nachdenklichsten Tage dieser Fahrt. Nicht weil ich sehr viel getan hätte. Ab jetzt muss ich wieder im Singular schreiben, Plural ist vorbei, für viele Monate. Es ist ein Zustand, in dem ich zuvor viele Wochen existiert hatte, das Alleinsein war Teil von mir, den ich genossen und in dem ich sein konnte. Der ich war. Und doch kann ich jetzt, da ich Nina zum Flughafen gebracht und sie ihrem Alltag in Berlin überlassen habe, nicht aufhören, sie und die gemeinsame Zeit zu vermissen. Echte Trauer empfinde ich sehr, sehr selten, schon gar nicht, wenn es um Verluste geht. Heute ist es anders. Das letzte gemeinsame Frühstück war anders. Sonst hatten wir immer Croissants bestellt, heute jedoch Pain au Chocolat. Eine Kleinigkeit, die nicht wichtig ist, würde jeder andere denken, aber das stimmt nicht. Es war bereits ein winziger Bruch unserer gemeinsamen Zeit. Auch war die Stimmung natürlich gedrückter als sonst, wir planten nichts gemeinsam, überlegten nicht, ob wir auf dem Campingplatz bleiben oder ihn verlassen sollten. Da war nichts mehr, kein gemeinsames Zeitverbringen. Schleppender als sonst packten wir den Camper, die sonst so perfekte Routine versagte heute, der Boden blieb ungefegt, wir suchten eine Viertelstunde verzweifelt das Kabel von Garmin, das wir noch nie verloren hatten. Alles war anders. Während der 20-Kilometer-Fahrt saßen wir stumm nebeneinander, jeder in sich versunken, den Abschied bereits vorwegnehmend. Ich erkannte nicht einmal, dass ich die Strecke bereits vor drei Wochen gefahren war, als ich von der Verdon-Schlucht kommend auf dem Weg nach Nizza war, um Nina abzuholen.
Wir tranken noch einen letzten Kaffee am Flughafen und ich verwünschte den Umstand, dass es der gleiche Flughafen war wie vor drei Wochen. Vieles wäre anders gewesen, die Trauer über den Abschied hätte nicht über der Freude des Wiedersehens gelegen, die so mit diesem Ort verbunden war.

So aber verschwand Nina irgendwann in der Masse der Reisenden, ihre Spur verlor sich nach der Sicherheitskontrolle und ich war wieder allein. Immer habe ich mir diesen Zustand gewünscht, betrachte ihn als fruchtbar und notwendig, aber heute ging es mir anders. Selbst jetzt bin ich noch verwirrt und weiß nicht, wie ich meine Gefühle deuten soll. Und schon gar nicht, was sie für mich für Konsequenzen haben, denn das ist es doch, was ich herausfinden möchte.
Im Moment stört mich vor allem die Stille. Was ich sonst über alles liebe, ist jetzt nicht richtig. Drei Wochen lang haben wir uns jeden Abend unterhalten, manchmal über Nichtigkeiten, manchmal über Kunst, manchmal über die Zukunft, wir hatten immer Themen. Das ist vorbei, wie zu Eis erstarrt ist meine Kommunikation plötzlich. Keine Worte finden mein Ohr, kein Input, kein Output, denn ich bin genauso still. Vielleicht muss ich ihr zuhören, der Stille, denn sie spricht genauso laut.

Nach dem Abschied fuhr ich relativ ziellos durch die Gegend, ich sah Nizza wieder, in dem ich vor etlichen Jahren zwei Wochen lang an einer Ferienschule versucht hatte, französisch zu lernen. Ganz erfolglos kann ich dabei nicht gewesen sein. Trotz der Tatsache, dass es sicher eine schöne Stadt ist, konnte ich den Glamour und vor allem die Geschäftigkeit in diesem Augenblick nicht ertragen. Fast blind fuhr ich vorbei, bis der kilometerlange Strand nur noch in meiner Erinnerung existierte.
In Cortes sollte ein Aire de Campingcar sein, was sich als Lesefehler meinerseits herausstellte. Außer einer Fäkalienablassstelle war da nichts weiter, schon gar keine Schafgelegenheit für mich. Der nächste Campingplatz auf meinem Weg lag in Menton, 30 Kilometer entfernt. Es war eine anstrengende Fahrt, die mich an einer der berühmten Corniches der Cote d’Azur vorbei führte. Es begann hoch oben in La Turbie, ein steinernes Denkmal aus römischer Zeit steht dort unübersehbar an der höchsten Stelle. Ab diesem Zeitpunkt wurde es wirklich spektakulär, das Mittelmeer lag weit unter mir, ebenso wie Monaco, dass aus der Ferne sogar etwas Erhabenes hat.

Millionäre wohnen neben anderen Millionären, eine elitäre Gesellschaft, die sich selbst gut genug ist. Ich konnte nicht umhin, über den Umstand nachzudenken, wie viele Menschen ihre Wurzeln verleugnen und hierher ziehen, nur um Steuern zu sparen. Verkaufen sie nicht ihre eigene Loyalität? Und eben wie gesagt ihre Wurzeln und auch den Start ins Leben, den ihnen die Gemeinschaft in früheren Jahren geschenkt hat? Ich weiß nicht, vor einigen Monaten hätte ich noch gedacht, dass es zum System gehört, sein Kapital zu schützen, so viel wie möglich von seinem erarbeiteten Geld zu behalten. Das ist die Maxime des Kapitalismus. Doch komme ich immer mehr zu der Einsicht, dass das falsch ist, dass man dann die Gesellschaft, die einem in Zeiten der Schwäche und des Anfangs eine Chance gegeben hat, einfach meistbietend verkauft.

Die Transe tat ihr Bestes, die Steigungen und Serpentinen zu meistern. Gerne tat sie es jedoch nicht, das merkte ich. Vor allem die Anfahrt zum Campingplatz in Menton mit Steigungen von 15% konnte ich nur im ersten Gang fahren, was immer wehtut, meinen Ohren und Transes Motor. Als ich oben ankam, wurde ich auf die Öffnungszeiten der rudimentären, sprich Container-, Rezeption hingewiesen. Zwei Stunden sollte ich warten, um auf einen völlig heruntergekommenen Campingplatz zu kommen, der von mir 25 Euro die Nacht kassieren wollte. Mich kostete das nur ein Lächeln, denn das stand außer Frage. Den Weg nach unten machte der Transe mehr Freude, auch wenn sie sich in einer Kurve gehörig überschätze und mich zum Rückwärtsfahren zwang. Die Autofahrer vor und hinter mir freute das weniger, aber mit so etwas lebe ich jetzt.

Am Ende des Tages kam es zum zweiten Abschied des Tages, denn nur wenige Kilometer weiter war die französisch/italienische Grenze. Vier Wochen, nachdem ich Frankreich betreten hatte, verließ ich es wieder. Unwiederbringlich und ungeplant, denn ich wollte in Frankreich meine Weiterfahrt organisieren und die beiden Vorderreifen austauschen lassen. Zwei Tage hatte ich eingeschätzt, nun aber bin ich hier, in Bordigherra am Strand, in einer Bar, und schreibe. Morgen fahre ich weiter, soviel ist sicher, wohin weiß ich noch nicht. Das Meer hier ist genauso schön wie in Spanien, das Hinterland verspricht auch viel, es ist schön bergig. In dieser Ecke war ich zudem noch nie, doch bin ich noch nicht sicher, wie meine Rundfahrt in Italien aussehen wird, noch wie lange ich hier verweilen werde. Die Saison hat angefangen, das macht dieses wunderschöne Land beinahe unerschwinglich für mich. Sehr schade, aber so ist es nun mal. Nach Triest, an der slowenischen Grenze, sind es nur 700 Kilometer. Mehr als zwei Wochen werde ich nicht bleiben. Aber wer weiß das schon so genau.
Nach der Hitze des Tages wird es gerade angenehm kühl, auch wenn die hohe Feuchtigkeit mehr als schweißtreibend ist.
Ich jedenfalls fühle mich jetzt etwas besser, ein weiterer Beweis dafür, dass das Schreiben meditativ und heilend wirkt.