Plataria bei Igoumenitsa

Ich habe es gar nicht gemerkt, aber der August hat sich beinahe unmerklich verabschiedet. Er tat es übrigens mit einem Wetterumschwung, von 35 auf 25 Grad, was mir in meinem Zustand vor einigen Tagen sehr recht war. Erst heute wird es mir bewusst. Nun also ist offiziell Nachsaison und ich genieße schon deren Vorzüge hier vor Ort. Aber deshalb habe ich mich nicht so früh hingesetzt, um zu schreiben. Es ist gerade einmal neun Uhr, ich sitze auf einer Terrasse am Strand, der ständige, leichte Wind, der mich in Griechenland immer empfängt, umsäuselt mich wie üblich.
Ich wollte den Versuch unternehmen zu beschreiben, warum gerade die Tage in Durres so wichtig für diese Reise waren. Durch die „Krankheit“, wenn man es denn so nennen will, bin ich körperlich gereinigt, praktisch durchgespült. Alles Alte ist draußen und viele Tage konnte ich Neues nicht hinzufügen. Im wahrsten Sinne des Wortes bin ich erleichtert, denn eine Menge Ballast, den ich ganz offensichtlich und ohne es zu wissen mit mir herum geschleppt habe, ist einfach weg. Es ist eine physische Erfahrung wie eine spirituelle. Man mag es mir glauben oder nicht, aber wie es scheint, sind auch geistig so einige Klumpen und Wirrungen mit hinausgespült worden. Dabei ging es um die Reise selbst, wie, kann ich noch nicht genau erklären. Nur soviel: Alles, was vor diesem ominösen Sonntag, an dem alles anfing, geschehen ist, scheint in einer anderen Welt, einem anderen Abschnitt zu liegen. Und zwar einem, den man nicht nur symbolisch erklärt wie beim Überspringen der 40-Jahresmarke, bei der eigentlich nichts anders ist als am Tag zuvor mit 39. Nein, das war anders. Es scheint, als hätte ich die Reise gestern mit der Fahrt neu begonnen. Dabei spielte der Länderwechsel keine Rolle, auch nicht die Tatsache, dass ich aus dem Balkan heraus bin. Ich hätte ebenso gut auch in Albanien bleiben können. Es ist so, unverständlich und mysteriös. Wie eine Neugeburt nach dem Sterben. Ich merkte es gestern schon beim Fahren, mein Geist war wacher, nie müde, auch wenn er mich abends, als ich mich bemühte, Worte zu finden, das eine oder andere Mal im Stich ließ. Doch während der Fahrt war er wieder da, ebenso wie die Lust auf Neues und Unbekanntes, auf Abenteuer und Schönheit. So sitze ich jetzt hier am Strand, plane bereits meine nächsten Schritte, und auch wenn ich körperlich noch lange nicht der Alte bin – ich schätze meinen Gewichtsverlust seit Beginn der Reise auf 5 bis 6 Kilo – gewinne ich doch die Energie zurück, die man durch ein Zuviel an Gewöhnung und Routine im Laufe der Zeit verliert. Auch bei einer so wundervollen Reise. Die Farben scheinen heute heller und intensiver, der Geruch der Luft eindeutiger und differenzierter. Der Geschmackssinn ist beinahe auf „Null“ zurückgesetzt, ich reagiere stark auf Gewürze, erfreue mich an natürlichen Aromen, die der Pfirsich heute verschenkte. Die Sinne sind wieder da, stärker den je. Ich weiß heute schon, wenn ich jemals einen Wendepunkt auf dieser Fahrt bestimmen muss, dann werden es diese Tage sein. Diese Erfahrung war immens wichtig, denn ich war schon betrübt, dass ich die Lust an meinem Abenteuer zu verlieren drohte, auch wenn sicher das Übelsein mir einen Streich gespielt hat. Doch auch vorher schon hatte sich die Routine – von mir beinahe unbemerkt – eingeschlichen, aber das weiß ich heute erst, denn ich selber habe kaum wahrgenommen, dass mein Interesse ganz eindeutig abgenommen hat. Vielleicht wird es mir auffallen, wenn ich die Reiseberichte überarbeite, doch habe ich wieder gelernt, wie aufmerksam und streng man mit sich selbst sein muss, um auch eigene Entscheidungen und Unternehmungen laufend zu hinterfragen. Denn aus Routine möchte ich so etwas nicht machen, sondern nur aus purem Vergnügen. Und das empfinde ich heute wieder, denn seit langer Zeit sitze ich hier, lächle, schaue auf das Wasser und erfreue mich einfach an diesem Dasein, das ich für einige Zeit gewählt habe. Sollte ich wieder merken, dass ich irgendwann einmal diese Freude nicht mehr empfinde, werde ich mir Gedanken machen, ob es nicht besser wäre, die Reise zu unterbrechen, um sie ein andermal, in frischerem Zustand, fortzusetzen. Es soll ja kein Zwang sein.

Es ist noch früh am Tag und er verspricht sehr ruhig zu werden. Warum auch nicht, die Fahrt von gestern war anstrengend genug. Der Roman ruft ebenfalls sehr laut, ich werde bald einen Ort finden müssen, an dem ich ihn überarbeiten möchte. Ich glaube, in Griechenland gibt es davon genug.
Das zweite Anliegen, das ich habe, betrifft Griechenland selbst. Auch wenn ich noch nicht sehr oft hier war, habe ich dennoch ganz wesentliche Abschnitte hier verbracht. Mit 22 war ich das erste Mal auf Paros, drei Wochen Pauschaltourismus auf dieser einen Kykladeninsel. Unglaublich heute, aber es hat mich die Kunst meines heutigen Reisens gelehrt, wenn auch über den Weg der Misserfolgs, selbst wenn man das damals sicher nicht so bezeichnen konnte. Doch habe ich seither nie wieder ein Reisebüro betreten, zumindest nicht, um etwas pauschal zu buchen.
Meine eigentliche Verbindung mit Griechenland kommt aber woanders her. 2003 erkrankte unsere Mutter an Leberkrebs. Sie starb nur wenige Monate später. Unser Vater, der sie aufopferungsvoll gepflegt hatte, überanstrengte sich dabei so sehr, dass auch er erkrankte. Sein Tod nur drei Wochen nach dem Ableben unserer Mutter hat uns drei Geschwister alle auf eine Weise getroffen, die ich hier wohl nicht weiter beschreiben muss. Auch wenn ich mich nur noch an Bruchstücke aus dieser Zeit erinnere, so habe ich immer noch das Bild am Grab vor Augen, die Minute, als alle schon weiter gegangen waren, die Urne meiner Mutter auf dem Sarg meines Vaters. Das Bild ist surreal, so etwas geschieht nicht. Und doch ist es geschehen. Ob man es mir glaubt oder nicht, ich habe damals gar nichts empfunden. Ich konnte nicht eine Träne vergießen, lebte in einer Art Parallel-Universum, um mit dem Geschehenen fertig zu werden. Obwohl, statt Trauer empfand ich damals rasende Wut auf meinen Vater, der sich so mir nichts, dir nichts aus der Verantwortung gezogen hatte. Ich weiß, das klingt makaber angesichts des Todes, doch war es so. Einen Tag nach der Beerdigung flogen meine damalige Lebensgefährtin und ich zurück nach Luton, es war ein Samstag. Ich konnte jedoch nicht zurück in den Alltag, zumindest noch nicht. Es war Anfang Dezember, ich wollte allein sein, doch wohin konnte ich, an welchen Ort, der mich nicht in eine tiefe Depression stürzen würde? Noch am Samstag buchte ich einen Flug nach Athen, der am Abend ging. Eine Woche lang umsorgte Griechenland mich und mein düsteres Gemüt, half mir dabei zu leben, nicht mehr und nicht weniger und mich langsam wieder aufzurichten. Die Sonne schien jeden Tag, das half sehr, die Temperaturen lagen bei ungefähr 20 Grad, was damals selbst Einheimische verwunderte. Mich jedoch nicht, denn das war das Geschenk, dass das Land an mich machte. Es gab mir von seiner überschwänglichen Leichtigkeit etwas ab, großzügig wie immer. Sorgen wurden kleiner, der Energielevel, der bei „Null“ rangierte, erholte sich zumindest so weit, dass ich mich danach wieder dem Alltag stellen konnte. Sicher, auch danach war nichts normal, aber zumindest war ich wieder auf dem Weg zur Normalität. 2003 war ich auf Santorini und auf Paros, also Orte, die ich kannte, die mich nicht überforderten. Die Schlichtheit der Inseln half mir dabei, über den Tod meiner Eltern hinwegzukommen. Und das vergesse ich niemals.
Es sieht hier, auf einer Halbinsel hinter Igoumenitsa, übrigens ähnlich aus, türkises Meer, blauer Himmel, karge Hügel mit etwas Grün. Einfach eben, schlicht, doch intensiv wie immer. Es ist schön, zurück zu sein.