Ragusa, erster Versuch

Es war einer der eigenartigsten Tage auf der Reise.
Und es lag nicht daran, dass heute Weihnachten ist. Mir sind heute Dinge widerfahren, die eigentlich in dieser Anhäufung nicht geschehen können. Sind sie aber.

Es begann eigentlich recht beschaulich. Da ich auf einem sonnigen Platz stehe, wurde ich völlig natürlich schon kurz nach sieben Uhr wach. Das ist es also, mein Körper reagiert auf den natürlichen Kreislauf der Natur, erwacht, wenn es hell wird. Vielleicht sollte ich Bauer werden. Da gäbe es sicher genügend Subventionen abzugreifen. Immer diese Vorurteile…
Ich bewegte mich nicht besonders schnell, stellte schon früh fest, dass ich außerordentlich unkonzentriert war. So vergaß ich, das Feuer für den Kaffee anzumachen, wartete also neben einem kalten Herd auf das Koffein, das nicht kam. Wie auch. Ich beschloss, das erst einmal zu ignorieren und frühstückte, wobei mir mein immer länger werdender Schnauzer laufend in der Milch herum hängt. Ich möchte ihn wachsen lassen, aber es ist schon ein Kreuz. Noch vor zehn war ich soweit, ich wollte Ragusa besichtigen. Also stieg ich ein und wollte das Navi anschließen. Zu meinem Erstaunen lud es nicht. Ich untersuchte den Stecker, der sah eigenartig aus. Als würde etwas fehlen. Tat es auch. Ich entdeckte in der Fahrerkabine einige Einzelteile, setzte das Ding nach und nach zusammen. Ich fand noch mehr Teile, eines drohte, irgendwo zwischen zu rutschen, was ich mit einer Pinzette verhinderte. Ich nehme an, dass ich ziemliches Glück hatte, denn alle Teile waren da und nach einer Viertelstunde lief das Navi wieder.
Zeit, um abzufahren.
Ich setzte zurück, hörte ein eigenartiges Geräusch. Dann sah ich einen deutschen Rentner, der wild mit den Armen fuchtelte. Ich hatte vergessen, das Stromkabel abzuschließen. Das Geräusch, das ich gehört hatte, war der Ruck gewesen, der die Halterung der Buchse am Camper abgerissen hatte.
Schöne Bescherung, im wahrsten Sinne.
Da ich weiß, dass alles, was baumelt, bald abreißen wird, versuchte ich, die Buchse, die nur noch an dem Kabel zum Innenraum hing, wieder anzubringen. Mit Draht und Sekundenkleber bemühte ich mich, es zu befestigen, es war eine ziemlich aussichtslose Geschichte, aber irgendwann hing die Buchse wieder. Halbwegs. Um vielleicht doch noch den Halt zu bekommen, den ich verloren hatte, bemühte ich Sekundenkleber. Und siehe da, es ist wieder fest. Vorerst. Ich weiß selbst, dass es nur provisorisch repariert ist, aber immerhin besser als nichts. Ich hatte bei der Geschichte noch Glück im Unglück. Das Kabel ist nicht beschädigt worden, somit funktioniert der Strom weiterhin. Doch dank dieser Aktion hatte ich nicht nur Kleber an meinen Fingern, sondern eigenartigerweise plötzlich an meinen Lippen. Es zog unangenehm und das Entfernen war schmerzhaft, weil es mich einen Teil der empfindlichen Haut auf den Lippen kostete. Also musste ich mich noch verarzten.

Ich überlegte, ob es sinnvoll wäre, überhaupt zu fahren. Mittlerweile war es bereits nach elf, ich fühlte mich ziemlich schlecht, geistig nicht auf der Höhe. Aber ich wollte mich nicht so schnell geschlagen geben.
Die Fahrt ging recht schnell, Ragusa ist nur 30 Kilometer entfernt. Es ist eine Stadt, die mich von Anfang an verwirrte. Sie ist größer als ich dachte, der Verkehr war mörderisch, weil sicher alle Sizilianer in der Gegend noch letzte Geschenke kaufen mussten. Irgendwann parkte ich, beschloss, loszulaufen, dorthin, wo ich das historische Zentrum vermutete. Ich war bereits mehr als einen Kilometer gelaufen, da stellte ich fest, dass ich die Kamera vergessen hatte.
Spätestens jetzt hätte ich es verstehen müssen.
Heute waren Mächte im Spiel, mit denen man sich nicht anlegt und deren Zeichen man Ernst nehmen sollte. Ich nicht, zumindest nicht heute. Also drehte ich um und lief zurück. Am Camper stellte ich fest, dass die Kamera die ganze Zeit in meiner linken Jackentasche gewesen war. Dort ist sie nie, immer in der rechten.
Ich hatte keine Lust, nochmals so weit zu laufen, also fuhr ich. Mittlerweile begann das Wetter umzuschlagen. Heute Morgen war ich noch in der Sonne am Strand spazieren gegangen. Dann kamen einige weiße Wolken, nun wurden sie bedrohlich dunkel. Aber ich war so lange unterwegs gewesen, dass ich nicht einfach zum Platz zurückfahren wollte. Ich benutzte das Navi intelligenter, etwas, worauf ich vorher nicht gekommen war. Ich gab den Dom als Reiseziel an, fand auf diese Weise das historische Zentrum. (Dachte ich zumindest) Ich hatte es dort nicht vermutet. Dabei wäre ich sicher noch kilometerweit gelaufen, in die falsche Richtung bestimmt. Also hatte ich auch hier Glück, auch wenn es hart erkämpft war. Ich fuhr näher heran, den Rest wollte ich laufen.
Dann war ich zumindest ein der „neuen“ Altstadt, die ich erst für die alte gehalten habe. Es ist ein Ort wie auf dem Schachbrett entworfen, doch mit sehr viel Charme. Sicher aus der Barockzeit. An einer gewaltigen Kirche fand ich die Touristeninformation. Die nette Dame beriet mich ausführlich, langsam begann ich, Ragusa zu verstehen, zumindest auf dem Stadtplan. Ich näherte mich also dem Ziel, in dem ich den Corso Italia entlang lief. Das war der Weg zur „echten” Altstadt, Ragusa Ibla. Die fand ich, sie liegt spektakulär in einem Tal, klammert sich an einen anderen Hügel, was hieß, dass man erst hinuntergehen muss, dann wieder nach oben.
In diesem Augenblick fielen die ersten Tropfen.
Der Wind frischte auf, es war mit einem Mal wirklich ungemütlich. Ich wusste, dass es das Ende bedeutete. Die Wolken waren nicht mehr nur grau, sie waren lila. Ich kam mir vor wie Moses, der das Gelobte Land zwar sehen, aber nicht betreten durfte. Sehr theatralischer Vergleich, aber er passt.

Ragusa Ibla muss also warten, ich habe wirklich alles getan, um diesen Ort zu erreichen, der ganz sicher alle Mühe wert ist. Aber im Regen erkundet man keine Altstadt, das ist ein reines Outdoor-Vergnügen. Vielleicht morgen, ich weiß ja nun, wo ich suchen und parken muss.
Ich lief zurück zum Auto, der Regen stellte sich noch nicht ein. Fünf Minuten, nachdem ich abgefahren war, ging es los. Es war nicht einfach nur Regen, es hagelte dicke Brocken Eis.
Vielleicht kann man so meine Unkonzentriertheit erklären.
Ich bin sehr wetterfühlig und eine solch drastische Veränderung liegt immer bereits in der Luft, Stunden, bevor sie eintritt. Ich möchte es glauben, somit waren es keine höheren Kräfte, sondern einfach nur mein Körper und Geist, der naturgemäß reagierte. Eigentlich war ich etwas krank, hätte den Platz heute nicht verlassen dürfen. Ich werde daraus lernen. Zum Glück kommt das nicht oft vor.

Ich kehrte also zurück, fuhr durch einen Sturm, der Regen peitschte, der Wind heulte. Aber wieder hatte ich Glück, denn der Regen hatte den Platz am Meer noch nicht erreicht. Da ich meinen Schlafsack zum Lüften hinaus gehängt hatte, war dieser noch trocken. Als ich ihn hinein geholt hatte, erreichte uns der Sturm. Jetzt sitze ich im Camper, alles wackelt wegen des Windes. Die See ist aufgewühlt, die Wellen sind hoch. Auch wenn mir heute viel widerfahren ist, hatte ich meistens noch Glück.
Bald werde ich meine Wildschwein-Tajine kochen und etwas feiern.
Nur für mich.
Eine leise Melancholie breitet sich gerade aus, aber es ist nicht schlimm. Nachher sehe ich noch die neuste Dickens-Verfilmung der Weihnachtsgeschichte mit Jim Carrey an. Ich habe sie mir für diesen Tag aufgehoben.
Morgen ist ein neuer Tag. Ich hoffe, er wird besser.