Ruhetag in Kalabrien

Sonntag, Ruhetag.
In der Nacht verschlimmerten sich die Zahnschmerzen. Seit der Operation, die mir den letzten Weisheitszahn aus meinem Kiefer riss, habe ich Probleme. Doch so schlimm wie heute war es noch nie. Ich schaute mir die Geschichte daher genauer an. Das Zahnfleisch um den letzten Zahn, bzw. um dessen nagelneue Krone herum, ist eindeutig entzündet. Schon ein Schluck heißen Kaffees reichte aus, um mich aufjaulen zu lassen. Etwas musste getan werden. Ich erinnerte mich an Ghandi und seine Selbstversuche. Auch ich wollte etwas Derartiges starten.

Entgegen des sehr katholischen Brauches der Ruhe am siebten Tag waren sämtliche Geschäfte hier geöffnet. Also war es kein Problem, ein desinfizierendes Mundwasser zu bekommen. Schon der erste Schluck jedoch brannte gewaltig, verbesserte die Lage ganz und gar nicht. Immerhin kam ich dazu, meine dahinschwindenden Vorräte aufzustocken. Dabei beobachtete ich eine eigenartige Szene. An der Kasse stand eine Frau mit einem schlafenden Baby auf dem Arm. Sie hatte es irgendwie fertiggebracht, ihre Waren auf das Band zu legen, sah sich nun jedoch kaum imstande, diese in Plastiktüten einzupacken, ohne das Kind zu gefährden. Also kam der Wachmann ins Spiel. Wie selbstverständlich und ohne viele Worte gab die Frau dem Angestellten das Baby, der es fachgerecht und sorgfältig in den Armen hielt, während die Frau sich um den Einkauf kümmerte. Es ist nur eine kleine Szene, hier sicher etwas Selbstverständliches, doch verdient sie Beachtung. Denn ich stelle mir etwas Ähnliches in Deutschland vor. Besser gesagt, ich kann mir so etwas nicht vorstellen, weil es niemals passieren würde. Sei es aufgrund des Misstrauens der Mutter, sei es wegen der Unnahbarkeit des hiesigen Wachpersonals. Ich empfand es als sehr nette Geste. Vielleicht sind die Italiener in dieser Hinsicht gesellschaftlich weiter als wir.

Auf dem Campingplatz angelangt, plagten mich die Zahnschmerzen immer noch. Also nutzte ich die Situation, in der ich mich ablenken wollte, um den Camper komplett auszuräumen und sauber zu machen. Wie nötig das war, zeigte mir die Farbe des Putzwassers, das meist schon nach kurzer Zeit tief braun war. Wie kommt es nur, dass mich so etwas meist wochenlang kaum stört? Heute sah ich es erst, was immer schon vor meiner Nase war, aber nur, weil ich mich zwang hinzusehen. Ich war kräftig zugange, putzte auch die Fahrerkabine, die zu meinem Erstaunen schwarz ist. Ich hatte sie für grau gehalten, dabei war das nur die Staubschicht. Mehrere Stunden benötigte ich für diesen winzigen Raum, sortierte dabei auch die Lebensmittel neu. Es ist ein Fakt, dass ich über solche Dinge keinen Überblick habe. Mehrere angefangene Verpackungen mit Pasta fand ich, dabei hatte ich heute wieder eine neue gekauft. Auch habe ich auf diese Weise ein ganzes Sammelsurium von Hülsenfrüchten, Linsen und Bohnen in allen Formen und Farben. Ich muss gestehen, dass es schon recht lustig war.

Während des Putzens hatte ich eine Idee. Ich habe eine Wundsalbe dabei, die bei mir meist sehr gut hilft. Kurz entschlossen wagte ich den Selbstversuch und schmierte mir Bepanthen auf die wunden Stellen. Es ist noch zu früh, um zu entscheiden, ob es ein Erfolg ist, aber ich meine, dass die Entzündung bereits zurückgegangen ist. In jedem Fall tut es nicht mehr so weh. Vielleicht vergifte ich mich auch gerade, bis jetzt geht es mir jedenfalls noch gut. Das Problem dabei ist, dass es sich um den Zahn mit einer sehr teuren Krone handelt. Den muss ich von demselben Doktor behandeln lassen, der mir dieses Luxusgerät vor zehn Monaten aufgeschwatzt hat, sonst muss ich wahrscheinlich eine weitere bezahlen, worauf ich nun wirklich keine Lust hab. Allerdings werde ich das nicht mehr sehr lange aushalten. Sollte es schlimmer werden, muss ich auf Sizilien einen Zahnarzt suchen. Ich möchte das zwar vermeiden, aber nicht um jeden Preis. Wir werden meine Bepanthen -Behandlung abwarten und sehen, ob sie hilft.

Morgen werde ich diesen Ort verlassen. Sicher ist hier im Sommer die Hölle los, jetzt ist es jedoch ziemlich langweilig. Allerdings habe ich einige Landsleute getroffen, von denen ich behaupten kann, dass sie das Leben ausgesprochen entspannt angehen. Sehr sympathisch. Aber kein Grund, hier länger als nötig zu verweilen.
Vielleicht steuere ich morgen bereits die letzte Etappe auf meiner Fahrt an. In jedem Fall fliegt die Zeit nur so dahin. Ich möchte sie aufhalten, verlangsamen, doch sie verrinnt mir zwischen den Fingern. Manchmal krame ich im Gedächtnis, denke an Erlebnisse dieser Fahrt. Es ist alles so lebendig, ganz anders als sonst, wenn Erinnerungen so schnell verblassen. Ich glaube, dass ich noch Jahre daran zehren werde, auch wenn ich mich nicht unbedingt darauf verlasen kann, dass auch wirklich alles so stattgefunden hat, wie ich denke. Aber dafür schreibe ich das hier auf. In einigen Monaten werde ich alles überarbeiten. Um dann hoffentlich diese Reise nochmals zu erleben. Ob sich irgendwer mit mir zusammen auf diese – literarische – Fahrt begibt, möchte ich bezweifeln. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich sie gemacht habe. Entgegen allen Unkenrufen.